Claus Ehrhardt

Sprachliche Höflichkeit


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Schweizer ist in der Regel viel höflicher im Umgang mit seinen Mitmenschen. Das wird schon in der Tram (die hier ‚das Tram‘ heißt) deutlich, wo man an den Endhaltestellen täglich höflich begrüßt und auch verabschiedet wird vom Fahrer. Ein ähnliches Bild zeigt sich im Supermarkt: Höflichkeitsfloskeln wie ‚Merci‘, ‚Danke‘, ‚Bitte‘ werden wohl in keinem anderen Land so oft verwendet wie hier. (Bertram 2014)

      Der Artikel beschreibt die Unterschiede im Kommunikationsverhalten als unterschiedliche Grade von Höflichkeit, die das eine oder das andere Land auszeichnen. Auch das hört und liest man oft. Briten sind höflicher als Deutsche, Franzosen sind höflicher als Spanier usw. Wir werden in Kapitel 7.2 noch ausführlicher darauf zurückkommen. Hier mag der Hinweis genügen, dass der weit verbreitete Eindruck, manche Kulturen oder Sprachen seien höflicher als andere im Wesentlichen auf unzulässigen Verallgemeinerungen und einem diskussionswürdigen Verständnis von Höflichkeit beruht. Was uns hier interessiert, ist der Höflichkeitsbegriff, der sich in solchen Behauptungen manifestiert: Er ist sehr stark am Begriff der Etikette orientiert, er identifiziert Höflichkeit mit der Realisierung von für die jeweilige Situation vorgeschriebenen Sprechhandlungen und wertet ein Ausbleiben der jeweiligen Handlung als Unhöflichkeit. Also: Wer immer schön und sehr oft bitte und danke sagt, der (oder die) ist höflich, wer das nicht tut, ist unhöflich. Das ist aus der Perspektive einer linguistischen Höflichkeitsauffassung sehr verallgemeinernd und vor allem abstrahiert es von den Äußerungskontexten. Unstrittig ist allerdings, dass sich Kulturen auch in den Höflichkeitskonventionen qualitativ voneinander unterscheiden und dass diese Unterschiede die interkulturelle Kommunikationinterkulturelle Kommunikation erheblich erschweren können.

      Interessanterweise wird vereinzelt auch auf problematische Aspekte der Höflichkeit hingewiesen. In einem Artikel (Blawat 2011) geht es um Kommunikationspannen. Die Überschrift lautet: „Die dunkle Seite der Höflichkeit. Manche Menschen riskieren ihr Leben, weil sie nicht unhöflich sein wollen. Die vermeintliche Tugend kann irritieren, zu Missverständnissen führen und manchmal sogar tödlich sein.“ Das klingt dramatisch. Höflichkeit wird hier als „Schmiermittel der Kommunikation“ im Alltag dargestellt, das jedoch in Extremsituationen unerwünschte Effekte haben kann, etwa bei gefährlichen Situationen in Flugzeugen oder bei Arztgesprächen: Nach einer zitierten Studie „[…] spielte es in drei Viertel aller Unfälle von US-Zivilflugzeugen in den Jahren 1978 bis 1990 eine Rolle, dass ein Crewmitglied seine KollegInnen allzu zurückhaltend, taktvoll und indirekt auf Fehler und Probleme hingewiesen hatte. Dies erschwerte dem Rest der Mannschaft, die Gefahr richtig einzuordnen und schnell genug zu reagieren.“

      Ein anderer problematischer Aspekt ist die Nähe von Höflichkeit und Lüge. Lügt man, wenn man höflich ist? Und wenn ja, ist das verwerflich? Im Magazin der SZ (Heft 12/2016) heißt es in der Überschrift eines Artikels: „Loben, lügen oder schweigen. Eine Bekannte betätigt sich als Künstlerin. Darf man ihr sagen, dass einem ihr Schaffen nicht gefällt?“ (Erlinger 2016b) Anknüpfen lassen sich viele weitere Fragen nach der Begründung einer Absage, nach dem Verhalten bei einer Essenseinladung, bei der es nicht geschmeckt hat usw. Das berührt den Bereich, der in der Linguistik als „prosocial lies“ (Meibauer 2014, 152ff.) analysiert wird. Auch in diesen Beispielen wird deutlich, dass unter Höflichkeit ein Verhalten subsumiert wird, das vor allem in der Befolgung von Vorgaben für bestimmte Situationen besteht. Auch hier wird der Kontext ausgeklammert: Es scheint in jeder Situation erwartbar zu sein, dass man indirekt kommuniziert und bitte und danke sagt, wenn man nicht als unhöflich angesehen werden möchte.

      2.4 Höflichkeit auf dem kulturkritischen Büchermarkt

      In Buchpublikationen auf dem nicht-wissenschaftlichen Sektor überwiegen Töne, die sich zwischen Skepsis und Katastrophismus bewegen, wenn es um Höflichkeit, ihre Akzeptanz in der Gesellschaft und ihre Zukunft geht. Titel wie Benehmt euch! Ein Pamphlet (Gärtner/Roth 2013) oder Scheiss drauf. Die Kultur der Unhöflichkeit (Mießgang 2013) sprechen für sich. Hier werden in der Gesellschaft weit verbreitete Klagen über den Verfall der Höflichkeit und vielleicht sogar der Kultur im Allgemeinen gebündelt, dargestellt und gefördert.

      Abb. II.2: Titelbild Gärtner/Roth (2013).

      Stefan Gärtner & Jürgen Roth: Benehmt Euch! Ein Pamphlet. DuMont Buchverlag, Köln 2013, ISBN: 978-3-8321-9726-1

      Die Autoren solcher Texte nehmen für sich in Anspruch, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und dabei nicht in Kulturpessimismus oder sonstige voreingenommene Positionen zu verfallen. Im Klappentext von Mießgang (2013) wird dies explizit reklamiert: „Dieses Buch ist weder ein Ratgeber für das Überleben in unhöflichen Zeiten noch ein neues kulturpessimistisches Lamento.“ Ein Blick in das Buch zeigt aber sehr schnell, dass eine gewisse Nähe zu Diskursen über den Verfall wichtiger kultureller Errungenschaften durchaus gegeben ist. Ein Schlüsselbegriff des Buches wird ebenfalls im Klappentext erwähnt: Der Autor beschreibt eine Form des Umgangs miteinander, die er als „strategischen Grobianismus“ etikettiert. Gemeint ist damit der bewusste Einsatz von Unhöflichkeiten, der als zeittypisch aufgefasst wird. Dem kann eine Art Kosten-Nutzen-Kalkül zugrunde liegen: Wenn ich ohne die Verwendung von höflichen Umwegen direkt zur Sache komme, dann geht alles schneller; wenn ich jemanden dazu zwingen kann, das zu tun, was ich will, dann muss ich ihn nicht erst lange bitten. In einer durchökonomisierten Gesellschaft mag das erst mal ein Vorteil sein. Ein Effekt dieser Dynamik ist aber der Verfall der UmgangsformenUmgangsformen. Andererseits hat das aber auch ein emanzipatorisches Potential: „Ein derbes Wort oder die gezielte Verletzung gewisser Regeln schafft – bisweilen – Emanzipation und enttarnt den Unsinn manch leerer Konvention.“Konvention Und nicht zuletzt scheint dem aktuellen Grobianismus ein neues Prestige zuzuwachsen: Wer sich so rüde äußert und sich nicht um Konventionen schert, dem ist oft (falscher?) Beifall sicher.

      Insgesamt überwiegt in solchen Büchern aber der pessimistische, fast schon apokalyptische Blick auf neuere Entwicklungen im Bereich der Umgangsformen. Die Kapitel von Gärtner/Roth (2013) sind etwa mit Verrohung, Verblödung, Verkindung und Verderben überschrieben. Es geht um Phänomene wie die „Rüpel-Republik“, die „antisoziale Seuche“ (11), die „Verrottung aller Lebensumstände“ (12) oder „die spätkapitalistische Verrohung der Sitten und Depravation der Gemüter“ (14). Da werden also schwere Geschütze aufgefahren.

      Was beklagen die Autoren eigentlich genau? Sie legen Wert darauf, ihre Urteile in Alltagserfahrungen aus allen möglichen Lebensbereichen zu verankern. Immer wieder wird auf den Verfall der Diskussionskultur in online-Medien verwiesen, auf den Sprachgebrauch auch in klassischen Medien, auf das Verhalten im Straßenverkehr (Fußgänger gegen Radfahrer, Radfahrer gegen Autofahrer) und in öffentlichen Verkehrsmitteln (z.B. bei Flugreisen), auf das Verhalten am Arbeitsplatz (z.B. Mobbing), auf den Verfall der Kleidungskonventionen, den Niedergang der politischen Diskussionskultur, den Umgang mit Smartphones oder den Umgang der Generationen miteinander.

      Solche Diagnosen laufen darauf hinaus, dass Höflichkeit eine Ausnahmeerscheinung und Unhöflichkeit der Normalfall ist. Das lässt dann auch den emanzipatorischen Impetus des strategischen GrobianismusGrobianismus in sich zusammenfallen: Wenn man mit Unhöflichkeiten niemanden mehr erschrecken kann, dann bringt man auch niemanden zum Nachdenken über den Sinn oder Unsinn von Konventionen. Dann bleibt nur noch die Tatsache, dass der gesellschaftliche Umgangston rauer und rücksichtsloser geworden ist. Mießgang fasst seinen Befund so zusammen:

      Das heißt nun allerdings nicht, dass sich die Unhöflichkeit klammheimlich aus der Weltgeschichte verabschieden würde. Im Gegenteil: Sie wird geradezu endemisch und infiziert wie ein fatales Virus die unterschiedlichsten Segmente des gesellschaftlichen Alltags. […] Die Schleusen sind geöffnet, wir steuern auf ein Zeitalter der gesamtgesellschaftlichen Manierenanarchie zu. Ziellos, begriffslos und bar jeden Trostes über die Welt, wie sie sich nun einmal darstellt. In diesem Sinne: Proleten aller Länder vereinigt euch und schreit laut: ‚Fick dich!‘ (Mießgang 2013, 23f.)

      Das zeigt zunächst einmal, dass Höflichkeit (oder ihr Gegenteil) im Zentrum der gesellschaftlichen Diskurse angekommen ist: Das Nachdenken über Höflichkeit hängt