Claus Ehrhardt

Sprachliche Höflichkeit


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auf der Grundlage einer verlässlichen Datenbasis fundiertere und objektivere Aussagen zu machen und damit dem zu untersuchenden Begriff auf die Spur zu kommen – oder zumindest eine erste Spur zu identifizieren: „[…] corpus analysis offers a firm ontological basis for understanding ‚politeness‘ across languages and relational networks“ (Kádár/HaughKádár/Haugh 2013, 192). Die Ausgangshypothese für ein solches Vorgehen ist die Idee, dass sich die Bedeutung von Wörtern wie höflich und Höflichkeit aus dem Sprachgebrauch ergibt, dass ein genauer Blick darauf, wie wir die Wörter verwenden, eine gut begründete Hypothese darüber zulässt, was wir darunter verstehen. Mit Blick auf die englische Sprache verweist auch WattsWatts auf die Relevanz eines alltagssprachlichen Begriffes von Höflichkeit, indem er betont „[…] polite and politeness are lexemes in the English language whose meanings are open to negotiation by those interacting in English. Their meaning are reproduced and renegotiated whenever and wherever they are used in verbal interaction, which of course means that related terms such as rude, rudeness (dis)courteous, impolite, impoliteness etc. are also struggled over“ (Watts 2003, 13). Die Angaben zum Gebrauch von Wörtern können also kein ein für alle Mal gültiges Bild der Gebrauchsregeln und der Bedeutungsnuancen ergeben, sie stellen vielmehr eine Momentaufnahme dar, eine Fotografie des im gegenwärtigen Sprachstadium in Form von GebrauchspräferenzenGebrauchspräferenz niedergeschlagenen kollektiven Wissens einer Sprachgemeinschaft.

      2.5.1 FrequenzanalysenFrequenzanalyse

      Moderne Korpora bieten die Möglichkeit, mit einfachen Mitteln auf umfangreiche Textsammlungen zuzugreifen und darin nach verschiedensten Kriterien wiederkehrende Muster in der Sprachverwendung zu suchen (vgl. z.B.PerkuhnPerkuhn/KeibelKeibel/KupietzKupietz 2012). Wer, wo, wann, in welchem Kontext die hier diskutierten Wörter verwendet und welcher Höflichkeitsbegriff diesen Verwendungen zugrunde liegen könnte, lässt sich in den Korpora des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (hier: COSMAS IICOSMAS II) und im DWDS (Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache) gut nachvollziehen.

      Wir möchten hier keine eingehende KorpusanalyseKorpusanalyse vornehmen, aber doch einige Daten aus den beiden Korpora präsentieren, die die Beschreibung des alltagssprachlichen Höflichkeitsbegriffs bereichern können. Neben Frequenzübersichten werden dabei vor allem die GebrauchsumgebungenGebrauchsumgebung relevant, also die Frage, mit welchen anderen Lexemen die Höflichkeitswörter signifikant häufig zusammen gebraucht werden und mit welchen sie charakteristische Komposita bilden. Eine semantische Analyse solcher Verbindungen (die hier oberflächlich bleiben muss) wird Hinweise darauf ergeben können, was Sprecher meinen, wenn sie von Höflichkeit oder Unhöflichkeit sprechen. Sie bildet das in Gebrauchstendenzen sedimentierte Wissen der Sprachgemeinschaft ab, das jedem Sprachbenutzer präsent ist – was nicht heißt, dass es sich um explizit abrufbares Wissen handelt. Im Gegenteil: In vielen Fällen sind Sprecher sich nicht darüber bewusst, dass sie bestimmte LexemverbindungenLexemverbindung bevorzugt verwenden und andere Möglichkeiten zwar zur Verfügung stehen, in den meisten Fällen aber nicht aktiviert werden.

      In Cosmas II findet sich zunächst die Möglichkeit, im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) und anderen Textsammlungen die Frequenz der Lexeme und ihre historische Entwicklung zu verfolgen. Das Cosmas II-Korpus umfasst diverse Einzelkorpora mit Zeitungstexten, Protokollen von Parlamentsdebatten, literarische Texte und vielen weiteren Textsorten aus den letzten Jahrhunderten. Insgesamt sind nach Angaben des IdS ca. 9 Mrd. Wortformen erfasst. Die Suche nach allen Wortformen von höflich, unhöflich, Höflichkeit und Unhöflichkeit in allen öffentlich zugänglichen Korpora ergibt folgendes Bild:

      Abb. II.3: Gebrauchsfrequenzen im COSMAS II-Korpus, Stand: 18.9.2020

      Die Kurven zeigen einen auffälligen Anstieg ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Frequenzwerte für höflich für die 50er, 60er und 70er Jahre lagen bei 771, 1328 und 1126, um dann in den 80ern auf 1533, in den 90ern auf 9597 und schließlich im neuen Jahrtausend auf den Wert von 25735 zu steigen. Für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind fast 30000 OkkurrenzenOkkurrenz erfasst. Fast parallel, wenn auch auf niedrigerem Niveau, verläuft die Kurve für das Substantiv. Auch hier beginnt in den 80er Jahren eine signifikante Entwicklung: Vorher (70er Jahre) lag die Gebrauchsfrequenz bei 660, in den 80ern selbst bei 689, in den 90ern bereits bei 3945. Weniger häufig, aber ebenfalls mit ansteigender Tendenz, werden die beiden abgeleiteten Lexeme mit Negationspräfix verwendet. Auch hier sind für das Adjektiv höhere Werte zu verzeichnen als für das Substantiv.

      Die Unterschiede zwischen Adjektiven und Substantiven lassen sich als Hinweis darauf interpretieren, dass die Lexeme in der Alltagskommunikation typischerweise dazu verwendet werden, Verhalten zu klassifizieren, zu werten und mit einem entsprechenden Etikett oder Label (vgl. CulpeperCulpeper 2011, 76ff.) zu versehen. Die Verwendung der Adjektive wäre damit Teil einer Art metasprachlichen Aktivität: Wer sie verwendet, der spricht über das sprachliche (und auch nicht-sprachliche) Verhalten anderer Menschen und bewertet dieses. Die Substantive treten seltener auf; das lässt sich mit der Hypothese erklären, dass abstraktere Begriffe in der nicht-wissenschaftlichen Kommunikation keine so große Rolle spielen, aber doch bemerkenswert präsent sind – vor allem in den Jahren nach 1980.

      Die zeitliche Entwicklung kann insgesamt sicher nicht nur damit erklärt werden, dass für die letzten Jahrzehnte mehr Texte erfasst worden sind. Sie deuten vielmehr darauf hin, dass Höflichkeit und Unhöflichkeit in immer weiter steigendem Ausmaß zum Gegenstand von Diskussionen und Reflexionen werden. Die statistischen Angaben bestätigen eindeutig den Eindruck, den auch viele Beobachter des deutschen Buchmarktes haben: Werke über Höflichkeit, Ratgeber, Benimmbücher, Etikette-Leitfäden und Ähnliches haben in den letzten Jahren Hochkonjunktur. Ganz offensichtlich gibt es in der Gesellschaft um die Jahrtausendwende ein starkes Bedürfnis, über angemessenes und unangemessenes Verhalten nachzudenken und zu diskutieren. Das bedarf sicher einer vertiefenden Analyse im Zusammenhang mit der Beschreibung allgemeinerer gesellschaftlicher Tendenzen. Wir werden das Thema wieder aufgreifen. Hier sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die Angaben aus der Frequenzanalyse auch nicht überbewertet werden sollten; es handelt sich immer nur um absolute Zahlen, nicht um relative Frequenzen. Eine im Vergleich zu früheren Zeiten höhere Anzahl erfasster Texte aus den letzten Jahrzehnten verfälscht das Bild.

      2.5.2 KookkurrenzanalysenKookkurrenzanalyse

      Die Korpusanalyse ergibt nicht nur rein quantitative Angaben über Gebrauchsfrequenzen, sondern ermöglicht auch einen Einstieg in eine qualitative Auseinandersetzung mit der Frage, was Sprecher unter ‚Höflichkeit‘ verstehen. Einen ersten Eindruck davon kann man sich verschaffen, wenn man untersucht, mit welchen Lexemen Höflichkeit häufig kombiniert wird, mit welchen Wörtern es in Komposita verwendet wird, welche Wortbildungsformen besonders häufig auftreten oder aus anderen Gründen auffällig sind.

      Die Kookkurrenzdatenbank (BelicaBelica 2001ff.) erlaubt es zunächst, die häufigsten Kookkurrenzpartner der hier zur Diskussion stehenden Lexeme zu identifizieren und damit die Grundlage für ein GebrauchsprofilGebrauchsprofil zu schaffen, das wiederum wichtige Hinweise darauf geben kann, was SprecherInnen unter dem jeweiligen Begriff verstehen. Typische Verwendungsmuster werden damit als Verweis auf charakteristische Denkmuster aufgefasst. Die Datengrundlage für diesen Ansatz ist ein virtuelles Korpus, das auf dem DeReKo basiert und einen Umfang von ca. 2,2 Milliarden laufenden Textwörtern aufweist. Die Ergebnisse der Recherche werden hier als wordle dargestellt (www.wordle.net). Für Höflichkeit ist die Liste der relevanten KookkurrenzpartnerKookkurrenzpartner lang. Eine Beschränkung auf die ca. 20 im Umfeld des Wortes am häufigsten auftretenden Lexeme ergibt sich folgendes Bild:

      Abb. II.4: Kookkurrenzprofil von Höflichkeit. wordle-Darstellung, Datengrundlage Belica 2001ff., Stand: Mai 2017

      Gezeigt wird, wie häufig die angegebenen Wörter zusammen (im Abstand