Claus Ehrhardt

Sprachliche Höflichkeit


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der Kommunikation schwer anwendbar ist. Unterbrechungen sind einfach unvermeidlich – schon in ganz alltäglichen Interaktionen, viel mehr noch in Mediengesprächen. Wenn die TeilnehmerInnen sich nicht ab und zu unterbrechen, wird der Dialog schnell leblos. Das gehört offensichtlich auch zum Wissen aller SprecherInnen und HörerInnen; UnterbrechungenUnterbrechung werden deswegen durchaus nicht immer als Unhöflichkeit aufgefasst. Die Etiketteregel ist also viel zu allgemein. Der Unhöflichkeitsvorwurf zeigt aber Wirkung. Die Überlappungen von Beiträgen hören an dieser Stelle auf, der Adressat des Vorwurfs verteidigt sich; er kann oder will es sich nicht leisten, diesen Vorwurf auf sich sitzen zu lassen. Man kann hier verallgemeinernd die Hypothese ableiten, dass aus der Perspektive der Beteiligten Höflichkeit in der Interaktion eine wichtige Rolle spielt; es wiegt schwer, wenn jemandem das Interesse an Höflichkeit oder die Fähigkeit, höflich zu sein, abgesprochen wird.

      Das Beispiel zeigt auch, dass es im Einzelfall durchaus nicht leicht ist, einzuschätzen, ob eine Äußerung höflich ist oder nicht. Für GE sind die Unterbrechungen im konkreten Fall unhöflich; ihr Gesprächspartner (ein distinguierter und wohlerzogener Mensch) ist da anderer Meinung. Die BeobachterInnen werden diesbezüglich eine weitere Auffassung vertreten und wiederum untereinander ebenfalls kaum einen Konsens finden. Wessen Urteil gilt? Kann man das objektivieren? Sollte man sich für ein Urteil über den Grad von Höflichkeit einer Äußerung auf die Intention der SprecherInnen beziehen? Auf die Auffassung der AdressatInnen? Oder auf Urteile von HörerInnen oder BeobachterInnen? Es bleibt zumindest der Verdacht, dass der Höflichkeitsgrad einer Äußerung nicht nur vom GesprächskontextGesprächskontext abhängt, sondern auch davon, aus welcher Perspektive man sie betrachtet. Als wissenschaftliche/r BeobachterIn könnte man annehmen, dass das Verhalten von K als höflich eingestuft werden kann, wenn es die weitere Interaktion nicht störend beeinflusst.

      Ganz deutlich zeigt sich, dass Höflichkeit in Gesprächssituationen umstritten sein kann. In Gesprächen geht es nicht nur um Inhalte, sondern eben auch darum, wie man miteinander umgehen kann und soll. Wenn darüber keine Einigkeit besteht, bzw. wenn sich diese Uneinigkeit durch (aus der Perspektive eines Beteiligten) abweichendes Verhalten manifestiert, dann kann es zu Aushandlungsprozessen kommen, die darauf abzielen, einen gemeinsamen Standard zu etablieren, wer auf welche Weise was sagen kann. Höflichkeit ist in der Praxis der Kommunikation also durchaus dynamisch und das Ergebnis von mehr oder weniger expliziten metasprachlich ausgerichteten Handlungen, in denen es um die Aushandlung der „richtigen“ oder angemessenen Umgangsformen für die konkrete Gesprächskonstellation geht. Dies wiederum kann durchaus kontrovers sein – in Bezug auf den Höflichkeitsgrad einzelner Formulierungen, die Angemessenheit sprachlicher und nicht-sprachlicher Verhaltensweisen (z.B. jemanden unterbrechen) usw.

      Vor allem in solchen Mediengesprächen ist es zudem schwierig einzuschätzen, inwieweit Höflichkeit oder Thematisierungen von (Un)Höflichkeit strategisch eingesetzt werden. Es ist nicht auszuschließen, dass GesprächsteilnehmerInnen genau dann auf eine BeziehungsebeneBeziehungsebene ausweichen und angeblich unhöfliches Verhalten anderer thematisieren, wenn sie inhaltlich in die Bredouille kommen. Oder dass Unhöflichkeiten gezielt eingesetzt werden, um das Gegenüber zu provozieren und aus dem Konzept zu bringen. Solche Äußerungen hätten dann eher inhaltliche Ziele und Motivationen als beziehungsbezogene.

      Die Verhaltensmanifestationen, die hier als unhöflich klassifiziert werden, treten darüber hinaus nicht isoliert auf. Während des Gesprächs präsentiert sich K durchaus als charmanter, zugewandter und verbindlicher Gesprächspartner. Und auch im Laufe des abgedruckten Ausschnittes ist er durchaus nicht nur und nicht durchgängig unhöflich: Er entschuldigt sich auch prophylaktisch für eine Unterbrechung, er betont Übereinstimmung mit GE und räumt am Anfang ein, dass GE das Rederecht hat. Das ist alles eher höflich im Sinne der Etikette. Höflichkeit oder Unhöflichkeit ist also auch eine Facette eines umfassenderen Bildes. GE scheint sich nur auf die Unterbrechungen zu beziehen und damit den Vorwurf zu belegen, dass K ein unhöflicher Mensch ist. Sie wundert sich darüber, wohl weil auch sie ihn sonst anders wahrnimmt, kommt aber nicht auf die Idee, von der Verallgemeinerung (wer unterbricht, ist ein unhöflicher Gesprächspartner) abzusehen und ihr Urteil etwas differenzierter zu formulieren. Es ist durchaus diskussionswürdig, ob man Höflichkeit (oder Unhöflichkeit) einem Menschen zuschreiben sollte, einer Äußerung bzw. einer nicht-sprachlichen Handlung oder der gesamten Verhaltensorientierung einer Person in einem bestimmten Gespräch. Für die Beurteilung einer einzelnen Äußerung ist es sicher nicht ganz unerheblich, wie sich die betreffende Person im übrigen Gespräch verhalten hat. Einem im Allgemeinen höflichen Menschen wie K wird man eine unhöfliche Unterbrechung sicher eher verzeihen und dem Engagement für die Sache zuschreiben als einem notorischen Störer.

      Ein Blick auf die real existierende Kommunikation zeigt also sehr schnell, dass Höflichkeit für die GesprächsorganisationGesprächsorganisation objektiv und subjektiv aus der Sicht der TeilnehmerInnen bedeutsam ist und dass man in der Beschreibung und Analyse von Konversationen nicht sehr weit kommt, wenn man Höflichkeit mit der Befolgung von Etiketteregeln identifiziert. Die Wirklichkeit ist sehr viel komplexer als das, was Höflichkeitsnormen abbilden können. Offensichtlich kennen GesprächsteilnehmerInnen die Etikette, orientieren sich in manchen Situationen (vor allem bei der Beurteilung des Verhaltens anderer) auch daran, aber darüber hinaus geschieht noch viel mehr: Sie streiten über Höflichkeit, sie nutzen (Un)Höflichkeit strategisch, sie beurteilen das Verhalten anderer in Kategorien der Höflichkeit, sie verstoßen mehr oder weniger bewusst gegen alle Höflichkeitsregeln, und sie entwickeln situationsspezifische Höflichkeitsbegriffe.

      Halten wir an dieser Stelle fest: Eine sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Höflichkeit in einer konkreten Interaktionssituation muss viele verschiedene Aspekte und Faktoren aufgreifen, beispielsweise:

       Es geht um verbale oder nonverbale Handlungen, also um soziale Praxis in der Interaktion.

       Man sollte die Hörerperspektive im Auge behalten, also fragen, wie direkte AdressatInnen eine Handlung beurteilen, ob sie sie als höflich empfinden oder nicht.

       Dabei geht es immer auch um eine Bewertung durch die AdressatInnen, die diese auf der Grundlage bestimmter Kriterien vornehmen, die wiederum aufgedeckt werden sollten.

       Relevant sind aber auch die Intentionen der SenderInnen, also die Frage, warum/mit welcher Motivation SprecherInnen ihren Beitrag so gestaltet haben, wie sie es getan haben. Wollte der/die SprecherIn höflich sein? Was wollte er/sie darüber hinaus?

       Auch die SprecherInnen bewerten ihre Äußerungen mehr oder weniger explizit.

       Zu berücksichtigen sind die vortheoretischen Höflichkeitsbegriffe, die InteraktionsteilnehmerInnen ihren Handlungen und Bewertungen zugrunde legen.

       Das Verhalten, das als höflich klassifiziert wird, basiert auf sozialen Regeln und Konventionen.

       Wissenschaftliche oder auch andere BeobachterInnen mögen ihren Analysen andere Bewertungsgrundlagen zugrunde legen als die Beteiligten. Auch die BeobachterInnenperspektiveBeobachterperspektive muss hinterfragt werden.

       In Aussagen über Höflichkeit stecken immer Werturteile wie der Zusammenhang mit Solidarität, Kooperation, Konsensorientierung, Konfliktvermeidung, allgemeines Menschenbild usw.

      Der Höflichkeitsbegriff der TeilnehmerInnen unterscheidet sich notwendigerweise stark von dem der WissenschaftlerInnen. Unter anderem liegt das an der Fragestellung, unter der beide jeweils das Geschehen beobachten: Die TeilnehmerInnen können sich damit begnügen festzustellen, ob GesprächspartnerInnen sich höflich verhalten haben oder nicht; sie werden eventuell noch fragen, warum (nicht). WissenschaftlerInnen suchen nach weiteren Erklärungen und versuchen, ihre Beobachtungen und Analysen in ein umfassenderes Begriffssystem einzuordnen und aus diesem heraus zu erklären (vgl. dazu Haferland/Paul 1996, 7f.).

      Zentral für jedes wissenschaftliche (also auch sprachwissenschaftliche) Anliegen ist der vorrangig deskriptive Charakter im Unterschied zum normativen Ansatz der Etikette. Letztere ist vor allem darauf ausgerichtet, den RezipientInnen zu sagen, wie sie sich in bestimmen Situationen verhalten sollen, wenn sie gesellschaftlichen Erfolg haben und effizient kommunizieren wollen. LinguistInnen sind vor allem daran interessiert,