ihren publizistischen Niederschlag in „moralischen Wochenschriften“ sowie in einer großen Anzahl von KonversationslehrenKonversationslehre, nach Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer Gesprechspiele (1968-69/1644) u.a., Christian Thomasius’ Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit und Von der Klugheit, sich in alltäglicher Conversation wohl aufzuführen (1971/1710).
Abb. III.2: Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprechspiele (1644)
Daneben trugen die Erfindung der KonversationslexikaKonversationslexikon (BrockhausBrockhaus 1796 – 1808) sowie die ansteigende Zahl von Unterhaltungsspielen zur Normierung, Kodifizierung und Institutionalisierung der konversationellen Praxis bei (Schmölders 1986, 59ff.).
AnstandsbücherAnstandsbuch und Konversationslehren des 19. Jahrhunderts erfüllen einerseits neben ihrer vordergründigen Funktion der praktisch-handwerklichen Nutzbarkeit die weitergehenden Funktionen einer Selbstvergewisserungslektüre über Geselligkeitsformen. Andererseits fungieren sie als Aufstiegshilfe (so Linke 1996b, 88), und zwar durch die Einübung in öffentliche und private Formen bürgerlicher Geselligkeit, deren symbolische Ordnung sie durch die Modellierung der konversationellen Umgangsformen gleichsam mitkonstituieren halfen. Bürgerliche Höflichkeit wird so zum symbolischen Medium der SelbstverständigungSelbstverständigung und der IdentitätsstiftungIdentitätsstiftung.
Diverse Beispiele dafür werden in Linke (1996a) angeführt, darunter etwa Martin Schmeizel: Die Klugheit zu leben und zu conversiren, zu Hause, auf Universitäten und auf Reisen (1737). „Cautelen, die man fleißig zu practicieren“ habe, werden über den Ablauf und die Topik von Gesprächen aufgelistet (z.B.: das liebe Wetter, neue Sachen, Staats- und geistliche Sachen, Nachfragen nach des anderen Zustand und schließlich bei hoffärtigen Frauenzimmern: ihr Kleid loben und davon reden).
Die Internalisierung von Höflichkeit ist Aufgabe einer gesellschaftlichen Bildung. Der HöflichkeitserziehungHöflichkeitserziehung kommt daher nach bürgerlichen Vorstellungen ein besonderer Stellenwert zu.
3.2.2 KniggeKnigge
Eingeleitet durch die beiden in diesem Sektor wichtigsten deutschen Texte Über den Umgang mit Menschen (1788) von Adolf Freiherr Knigge sowie Das ideale Gespräch (1797) von Christian Garve ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland ein bedeutender Anstieg der Anstandsliteratur zu verzeichnen. Hier liegen also die Ursprünge einer bestimmten Form der Thematisierung von Höflichkeit, die bis heute wirkmächtig ist, wie wir in Kapitel. 2.2 gesehen haben.
Das Werk von Knigge unterscheidet sich allerdings grundlegend von früheren sowie späteren Anstandslehren; es stellt eine Zäsur in der Geschichte der deutschen Höflichkeit dar, gerade weil es keine BenimmfibelBenimmfibel sein will. Auch findet sich keine vergleichbare Entwicklung im zeitgenössischen Europa, zumal nicht in Frankreich, das damit auch seine Vorbildfunktion für höfliches Verhalten einbüßte.
Die Entstehung des Werkes ist eng verbunden mit der sozialen Differenzierung der bürgerlichen Gesellschaft, die anstelle der Modellfigur des HofmannesHofmann verschiedene gesellschaftliche Stände unterschied und den Kaufmann zur neuen Modellfigur erhob. Es ist das Verdienst Knigges, diese Pluralität von sozialen Positionen und Interaktionsanforderungen mit einer Differenzierung von HöflichkeitsstilenHöflichkeitsstil in Verbindung zu bringen. Sein Anliegen zielt aber nicht auf Unterscheidung im Sinne von Ausgrenzung, sondern gerade umgekehrt auf soziale IntegrationIntegration. Diese soziale Differenzierung zeigt sich deutlich in der Gliederung des Werkes:
Abb. III.3: Über den Umgang mit Menschen. Inhaltsverzeichnis der 18. Originalausgabe, Hannover und Leipzig (1908, XIII/XIV)
Die „Lebenslehre“ Knigges als Angehöriger des Adelsstandes verdankt sich sowohl der Reflexion höfischer als auch bürgerlicher Gesellschaftserfahrungen. Sein Werk stellt ein bürgerliches Gesellschaftsprojekt dar, „das die Erziehung der Person zu größerer sozialer Integrations- und kommunikativer Interaktionsfähigkeit ins Zentrum stellt“ (PittrofPittrof 1991, 165). „Wichtig ist“, so MontandonMontandon in seiner Einleitung (1991b, 15), „dass der neue Umgang eine allgemeine Kommunikation ermöglicht, die sich weit mehr auf universelle Werte der Integrierung gründet als auf Prinzipien des Ausschlusses.“
Als ein besonderes Gesellschaftsritual galt im gehobenen Bürgertum exemplarisch die VisiteVisite, der „AnstandsbesuchAnstandsbesuch“, für den ein ganzer Verhaltenskodex im Hinblick auf Anlässe, Zeitdauer, Sitzordnung, Gesprächsablauf, Redeverteilung, Themenwahl, Begrüßungs- und Verabschiedungsfloskeln verabredet wurde. Die Pädagogin und Frauenrechtlerin Marie Calm schreibt dazu in ihrem 1886 erschienenen Werk Die Sitten der guten Gesellschaft: „Der Anstandsbesuch oder die ‚Visite‘, wie man früher sagte, um diesen kurzen Besuch von anderen längeren zu unterscheiden, hat den Zweck, die Beziehungen zwischen Personen, die gesellig miteinander verkehren, aufrecht zu erhalten und bei besonderen Gelegenheiten sich gegenseitig seine Teilnahme auszusprechen.“
Anlässe (z.B. freudige, traurige, Zuzug in fremde Umgebung), Zeitpunkte (zwischen 12.30 und 13 Uhr) und Dauer (20 bis 30 Minuten) und Besuchstoilette (kurzes Kleid mit passendem Umhang, Hut und Handschuhe, bei Herren dunkler Oberrock und dunkle – nicht schwarze – Handschuhe, Überzieher, Stock und Schirm sind nicht salonfähig …usw.) sind genau vorgeschrieben. Um den zeitgenössischen Höflichkeitsnormen zu entsprechen, musste man sich daran halten.
Abb. III.4: Die Sitten der guten Gesellschaft. Aus: Calm 1886 (Wikipedia zeno/org) [12.08.2020]
3.2.3 Höflichkeitserziehung
Die Normvorstellungen der Kunst der guten Unterhaltung bezogen neben den detaillierten Vorschriften zu SprechstilSprechstil und WortwahlWortwahl auch para- und nonverbalpara- und nonverbales Gesprächsverhalten ein (z.B. Wohlklang der Stimme, Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit).
In Konstanze von Frankens Katechismus des guten Tones und der feinen Sitten, 1890 in 16. Aufl. erschienen, ergehen z.B. eindeutige Ermahnungen an die jungen Damen und Herren, im gesellschaftlichen Gespräch emotional gefärbte Wörter (z.B. feudal, famos, sündhaft, infam, patent, pyramidal, superbe, phänomenal sowie kolossal) sowie politische und religiöse GesprächsthemenGesprächsthemen zu vermeiden. Sie führten zu leidenschaftlicher Erregung und feindseligen Spannungen, die jeder angenehmen Unterhaltung ein Ende machen.
Trotz dieser engmaschigen sprachreglementierenden Vorschriften galt auch das bildungsbürgerliche Ideal nach wie vor dem „leichten“, von konkreten Handlungszwecken losgelösten Gespräch. Die geistreiche Konversation diente, als weitgehend selbstzweckhafter Zeitvertreib, einer sozialen Abgrenzung (nach unten) und der bildungsbürgerlichen Selbstvergewisserung (vgl. Linke 1996b).
Einen Überblick über die große Anzahl von Anstands- und ManierenbüchernAnstandsbuch in der Zeit von 1870 bis 1970 vermittelt die Studie von Krumrey (1984). Sie veranschaulicht den Wandel ungeschriebener Verhaltensnormen als Stationen des ZivilisationsprozessesZivilisationsprozess, den EliasElias (1939/1976) beschrieben hat. Die Entwicklungsstufen werden in sechs zentrale Beziehungstypen strukturiert, darunter: Beziehungen zu sich selbst (u.a. Sprachgebrauch, Gestik, Mimik, Körperhaltungen) und zu anderen Personen (je nach Alter, Geschlecht, Status, Vertrautheit) bis hin zum Gebrauch des Taschentuchs „als Gerät zur normgerechten, standardisierten Regulierung spezifischer körperlicher Äußerungen“ (Krumrey 1984, 233).
Aus dem Abschnitt über Verhaltensstandards zur Äußerung von Affekten, Gefühlen und Empfindungen seien die folgenden drei Zitate aus verschiedenen Epochen präsentiert:
Vermeide in deiner Rede alles Affektirte und Gezierte […] Sprich weder zu langsam, noch zu geschwind; weder zu laut noch zu leise, und bediene dich keiner