Rein, korrekt, gesittet, fließend, bündig, verständlich und angenehm sind die Eigenschaften, die man beim Sprechen sich zur Gewohnheit machen soll. Rein: also dialektfrei […]. Gesittet: Ordinäre Redewendungen der Gasse sind zu vermeiden. (Adelsfeld 1899, zit. nach Krumrey 1984, 269)
Die Zugehörigkeit zur guten Gesellschaft legt auch Verpflichtungen im Gebrauch der Sprache und in der Unterhaltung auf. Sehr wichtig ist es, daß man den Personen, mit denen man spricht, frei und offen ins Auge blickt. (Bodanius 1957, zit. nach Krumrey 1984, 273)
Die schon erwähnten Tendenzen der Normierung, KodifizierungKodifizierung und InstitutionalisierungInstitutionalisierung der konversationellen Praxis setzten sich im 19. Jahrhundert verstärkt fort. Sie führen zu einer Verstärkung der technischen Momente in der Anweisungsliteratur und einer Entwicklung „von der Kunst der Konversation zur Technik der Gesprächsführung“ (NeulandNeuland 1998).
Hervorzuheben ist dagegen aber auch das einsetzende theoretische Interesse am Gespräch (vor allem durch v. HumboldtHumboldt) sowie die zunehmende Verwissenschaftlichung der Konversationstheorie, vor allem bei FreudFreud und SimmelSimmel. Letzterer hat in seiner Eröffnungsrede zum ersten deutschen Soziologentag 1910 über Soziologie der Geselligkeit als Spielform der Vergesellschaftung das Gespräch als den „breitesten Träger aller menschlichen Gemeinsamkeit“ (2001, 187) bezeichnet und dabei die Rolle des „TaktgefühlsTaktgefühl“ (180) hervorgehoben. Mit der gesprächshaften Wechselwirkung tritt der „Doppelsinn des Sich-Unterhaltens“ in seine Rechte – ohne ein Eigengewicht des Inhalts. Sobald die Diskussion sachlich wird und es um die Eruierung einer Wahrheit geht, verliert sie nach Simmel ihren „Charakter als gesellige Unterhaltung“ (188).
Den Gedanken vom „Glück der Konversation“ hat Schlieben-LangeSchlieben-Lange in einem Beitrag von 1983 im Rückgriff auf Konversationsethiken des 17. Jahrhunderts entfaltet. Dass das Miteinanderreden als eine besonders glückhafte Form menschlichen Zusammenlebens empfunden wird, führt sie auf die These vom „Gespräch als Ort der Synthesebildung“ zurück, losgelöst von der Bewältigung der Alltagsnotwendigkeiten und praktischer Finalitäten.1 Versteht man das Gespräch als „Ort der zeitweiligen Vereinigung unvereinbarer Identitäten“ (Schlieben-Lange 1983, 141f.), liegt das Glück im Gespräch in der Objektivierung und Bewusstwerdung durch die Versprachlichung einschließlich der Erfahrung von IdentitätIdentität und DifferenzDifferenz2 sowie in der Möglichkeit der intersubjektiven Verständigungintersubjektive Verständigung, zumal in Zeiten schwindender Gemeinsamkeiten von Wissensbeständen und Verhaltensnormen in der Moderne.
3.3 Antibürgerliche Höflichkeitskritik im 20. Jahrhundert
Mit dem Abbau der Standessschranken und ständischen Bildungsprivilegien im 19. Jahrhundert (vgl. v. PolenzPolenz 1999, 70) verblasst auch die soziale Verbindlichkeit von Höflichkeitsnormen zugunsten größerer individueller Handlungsfreiheit (vgl. Beetz 1990, 7). Elias deutet den Abbau von Verhaltensstandards und Erhöhung des gesellschaftlichen Drucks zur Selbstregulierung als InformalisierungsInformalisierung- und Individualisierungsschub (1989/2005, 60ff.).
Die Verschiebung im Spektrum höflicher Ausdrucksweisen lässt sich am besten am veränderten Gebrauch der Anredepronomina im Deutschen veranschaulichen: die Anredeformen Du und Sie indizieren nicht länger Standesunterschiede; vielmehr markieren sie situative Unterschiede von Vertrautheit und sozialer Nähe bzw. Distanz (vgl. BeschBesch 1998, 86).
Radikale Kritik erfuhren Höflichkeitserziehung und formales Höflichkeitsverhalten durch die antiautoritärenantiautoritär Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts. Höflichkeitsnormen galten als aufoktroyierte Autorität; ein „Ende der Höflichkeit“ wurde propagiert (Kerbs/MüllerKerbs/Müller 1970); bildungsbürgerliche Konventionen sollten in ihrer herrschaftsstabilisierenden und –verschleiernden Funktion entlarvt werden. Das Anredepronomen Sie wurde als den Vorstellungen egalitärer Beziehungen unangemessen empfunden; Titel wurden auch im akademischen Bereich weggelassen; ein allgemeines DuzenDuzen wurde – versuchsweise – auch gegenüber Gruppen außerhalb der Studentenschaft erprobt.
SoziologInnen diagnostizieren: Alle sagen Du, als sei das damit Gemeinte schon gegeben (vgl. z.B. Jaeggi 1978 mit interessanten Analysen zur Studentenszene im Bochum der 1960er Jahre). Zwar hat sich diese Praktik nicht durchgesetzt, wohl aber das vergleichsweise konsequente Weglassen von TitelnTitel im bundesdeutschen Sprachraum, und zwar bis heute.
Aus den antiautoritären politischen Protestbewegungen des Jahres 1968 folgt auch eine sprachliche Umbruchsituation. StötzelStötzel/WengelerWengeler stellten 1995 die These von 1968 als sprachgeschichtliche Zäsur zur Diskussion; einige Jahre später wurde diese in einem Sammelband von KämperKämper, ScharlothScharloth und WengelerWengeler (2012) fortgeführt und vertieft.
Der veränderte Sprachgebrauch nahm seinen Ursprung bei linken Studierendengruppen und setzte sich fort in der Außerparlamentarischen OppositionAußerparlamentarische Opposition verschiedener sozialer Gruppierungen bis hin zu parteipolitischen Programmen. Das allgemeine Du lebt bis heute in kulturellen „GesinnungsgenossenschaftenGesinnungsgenossenschaft“ fort, sei es in der Sozialdemokratie, in ökologischen Gruppierungen oder Freizeitgesellschaften, z.B. bei Mitgliedern eines Sportstudios. Allerdings zeigen aktuelle Umfragen auch die bleibende Wertschätzung des Sie, besonders in beruflichen Kontexten (vgl. z.B. appinio 2019: „Siezen gehört immer noch zum guten Ton“).
Der HöflichkeitswandelHöflichkeitswandel im deutschsprachigen Raum kann mit AnkenbrandAnkenbrand als Wandel von einer Distanz- in eine NähehöflichkeitNähehöflichkeit beschrieben werden, als allmählicher Übergang von der traditionellen, etikettehaften DistanzhöflichkeitDistanzhöflichkeit zu einer Höflichkeit der Nähe und Vertrautheit bzw. von ihrer Simulation (Ankenbrand 2013, 90). In ihrer empirischen Studie zum Wandel von GeschäftskorrespondenzGeschäftskorrespondenz kommt die Autorin zur Unterscheidung einer aktuellen Variante von Höflichkeit, für die sie die Bezeichnung „professionelle Freundlichkeit“ als angemessener als „Nähehöflichkeit“ hält. Sprachliche Umgangsformen aus dem Kommunikationsbereich von Nähe und Vertrautheit werden in den Kommunikationsbereich der Distanz transferiert, um beim Empfänger das Gefühl individueller Wertschätzung auszulösen und kommerzielle Vorteile zu erlangen – ein taktischer Gebrauch von CamaraderieCamaraderie.
Diese Entwicklung zeigt sich heute in einer zunehmenden Tendenz der InformalitätInformalität.
3.4 Ausblicke auf Prozesse kulturellen Wandels in der Gegenwart
Die im Folgenden behandelten Tendenzen der Informalisierung und der generationellen Einflüsse hängen eng zusammen, da gerade die jüngeren Generationen stets als eine Quelle kulturellen und sprachlichen Wandels in Form von Informalisierungen wirkten.
3.4.1 Tendenzen der Informalisierung
Indizien für eine Informalisierung finden sich heute in vielen Lebensbereichen. Insbesondere kann hier auf eine Auflösung der Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit zugunsten der Ausdehnung eines ehedem Privaten verwiesen werden, die mit einer Ent-DistanzierungEnt-Distanzierung persönlicher Beziehungen verbunden ist.
Diese lässt sich vor allem am Wandel von Gruß- und Anredeformen einschließlich der GestikGestik und KörperspracheKörpersprache veranschaulichen. Knicks und DienerDiener sind auch für Kinder schon lange unüblich geworden; Hüte, die man lüften könnte, sind aus der Mode gekommen, von der VerbeugungVerbeugung ist in der BRD allenfalls ein leichtes Kopfneigen übriggeblieben. Wie neuere Studien belegen, nimmt die im Deutschen übliche tageszeitliche Differenzierung (Guten Morgen, Guten Tag, Guten Abend etc.) zugunsten von Kurzformen (Morgen, Tag etc.), vor allem aber zugunsten von Hallo als Passe-partout-Formel ab. Auch die nonverbalen Bestandteile des Grüßens haben sich verändert: Der WangenkussWangenkuss hat stark zugenommen, das HändeschüttelnHändeschütteln dagegen eher abgenommen (vgl. NeulandNeuland 2015).
Ein offensichtlicher Prozess des Wandels von Begrüßungskonventionen lässt sich in den Zeiten des Coronoavirus gut beobachten: Wenn man davon ausgehen muss, dass eine Person,