um Verwirrung zu vermeiden. Wenn man beispielsweise über den Wandel von Höflichkeit spricht oder schreibt, sollte man genau sagen, ob man von veränderten Umgangsformen, von lexikalischem Wandel oder von Veränderungen in der Konzeptualisierung von Höflichkeit spricht. Das Gleiche gilt für Sprach- und Kulturvergleiche: Hier stellt sich immer die Frage des tertium comparationis. Kann man beispielsweise sagen, dass politeness, cortesia oder politesse das Gleiche sind wie Höflichkeit? Auf welcher Ebene liegen Unterschiede zwischen dem Deutschen, dem Englischen, dem Italienischen und dem Französischen? Auf der Ebene der Wörter, der Verhaltensweisen oder der Begriffe? Oder sind die Unterschiede gar auf der Ebene der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Phänomenen angesiedelt? Ganz genau hinschauen sollte man auch bei den bereits angesprochenen, weit verbreiteten Klagen über den Verfall von Höflichkeit. Wenn jemand behauptet, die Schüler haben heute keinen Respekt mehr vor den Lehrern und der Institution Schule, wovon redet er dann? Da sollte man zuerst einmal prüfen, ob es stimmt, dass – wie oft behauptet wird – immer weniger Schüler ihre Lehrer „ordentlich“ grüßen. Und wenn es tatsächlich eine Veränderung auf der Ebene der Verhaltensweisen gegeben haben sollte: Kann man sagen, dass die Schüler heute unhöflicher sind als früher, oder haben sie einfach einen anderen Begriff von Höflichkeit und bewerten Handlungen anders?
Wenn man genau hinschaut, ist das Feld, das die Höflichkeitsforschung zu bearbeiten hat, sehr heterogen und unübersichtlich und stellt hohe Anforderungen an die methodische und begriffliche Herangehensweise in der Sprachwissenschaft oder in anderen Wissenschaften. Es gibt zwei bedenkenswerte Argumente, die darauf hinauslaufen, Höflichkeit gar nicht oder ganz anders zu thematisieren als das bisher gemacht wurde. Erstens: Watts hatte in der oben zitierten Passage schon vorgeschlagen, Höflichkeit als wissenschaftlichen Terminus gar nicht zu verwenden und den Begriff anders zu fassen. Ähnlich argumentiert BublitzBublitz:
Der Verzicht auf ‚Höflichkeit‘ als Beschreibungskonstrukt befreit uns zum einen von einem unerträglich überfrachteten und höchst vagen Begriff und verbietet zum anderen die unhaltbare Unterscheidung zwischen höflichen und unhöflichen Sprachen mit dem kausalen Rückschluss auf höfliche und unhöfliche Sprachgemeinschaften. (Bublitz 2009, 275)
Auch Bublitz erinnert also daran, dass die Vagheit des Höflichkeitsbegriffes ein Hindernis für die linguistische Diskussion darstellt. Im Folgenden werden wir trotzdem daran festhalten. Der wichtigste Grund dafür wurde bereits angesprochen: Wir halten Höflichkeit für einen Gegenstand, der zum einen im Rahmen von sprachtheoretischen Überlegungen dazu beitragen kann, das kommunikative Geschehen besser zu erklären als dies ohne ihn möglich wäre. Zum anderen macht der Begriff deutlich, dass sich die Sprachtheorie mit Gegenständen auseinandersetzt, die auch für den alltäglichen Sprachgebrauch und für die LaienreflexionLaienreflexion darüber relevant sind. Wir verstehen Bublitz’ Hinweis allerdings als Aufforderung, einen möglichst klaren und eindeutigen Begriff von Höflichkeit 2 zu entwickeln, mit dessen Hilfe erstens die kommunikative Praxis in deren eigener Begrifflichkeit analysiert werden kann und der zweitens dazu beitragen kann, dass diese Praxis im Rahmen von wissenschaftlichen Kommunikationsmodellen erklärbar wird. Dann sollte es auch möglich sein, sprachwissenschaftlich über Höflichkeit nachzudenken, ohne unhaltbare Unterscheidungen zu treffen – ohne also (z.B.) zu behaupten, das Französische sei höflicher als das Englische.
Das zweite Argument, das gegen ein solches Vorhaben spricht, findet sich in der Einleitung der Höflichkeitsmonographie von Watts:
The present book, however, should be seen as a radical rejection of politeness2 as a concept which has been lifted out of the realm of lay conceptualizations of what constitutes polite and impolite behavior and how that behavior should be evaluated. (WattsWatts 2003, 11)
Watts lehnt es also generell ab, eine Theorie der Höflichkeit zu entwerfen. Sein Augenmerk gilt dem, was auf dem Niveau von Höflichkeit 1 passiert; er will also untersuchen, wie Höflichkeit in der sozialen Interaktion eingesetzt, kommentiert und diskutiert wird und welche Funktionen diese Thematisierungen jeweils haben. Er betont dabei sehr stark den evaluativen Charakter von Höflichkeit und hält diesen für unüberwindbar. Wenn sich also die Sprachwissenschaft mit Höflichkeit beschäftigt, dann übernimmt sie einen Gegenstand, zu dessen konstitutiven Eigenschaften es zählt, dass er von InteraktionsteilnehmerInnen verwendet wird, um (subjektiv) zu bewerten, was andere InteraktionspartnerInnen machen. Dabei bleibt auch der normative Charakter zwangsläufig immer erhalten. Wissenschaft sollte aber nicht subjektiv und normativ sein. Folglich ist es für Watts ausgeschlossen, dass es eine sinnvolle wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Höflichkeit geben kann.
Letztlich spricht aus den Bemerkungen Watts’ eine tiefe Skepsis gegenüber jeder Form von Sprachtheorie. Er sieht hier das Problem, das eine Theorie ein Modell entwickelt, im Falle der Sprache aber dazu genau den Gegenstand heranziehen muss, den sie behandelt. Eine Sprachtheorie spricht darüber, wie wir Sprache verwenden – und verwendet dafür natürlich Sprache. Sie kann also nicht wirklich von ihrem Gegenstand abstrahieren und übernimmt seine (in der Wissenschaft störenden) Eigenschaften: „Its very essence is prescriptive and normative“ (Watts 2003, 48).
Darüber könnte man lange diskutieren. Wir beharren in diesem Buch darauf, dass eine MetaspracheMetasprache möglich ist, die sich der gleichen Wörter bedient wie die ObjektspracheObjektsprache, diese Wörter aber auf klarere und theoriekonforme Begriffe verweisen. So wie man über Freiheit, Traum, Netzwerk, Gesellschaft, Demokratie und vieles andere mehr sowohl alltäglich als auch wissenschaftlich anspruchsvoll diskutieren kann, so sollte das auch für Höflichkeit möglich sein.
Wir werden also den Versuch unternehmen, empirisch zu beschreiben und theoretisch zu erklären, was SprecherInnen tun und denken, wenn sie höflich sind, welche kommunikative Funktion dies hat und welche interaktiven Effekte es bewirkt.
Die Unterscheidung zwischen Höflichkeit 1 und Höflichkeit 2 wird in der Höflichkeitstheorie nach der sog. diskursiven Wende eine gewisse theoretische Brisanz erhalten. Wir werden deswegen in Kapitel 6.5.1 darauf zurückkommen.
3 Höflichkeit in der Kulturgeschichte
Der folgende Rückblick kann nur äußerst kursorisch auf die reiche Tradition der Geschichte der Höflichkeit im Deutschen eingehen. Wesentlich erscheint vor allem:
dass die Auseinandersetzung mit Höflichkeit inhaltlich ausgedehnt war auf den Bereich des menschlichen Umgangs überhaupt (conversatio) und speziell des GesprächsGespräch,
dass diese Thematisierungen oft präskriptiv waren,
dass sie noch vor Beginn der modernen, fachlich gebundenen Wissenschaften erfolgten und
dass sie nationale Grenzen überschritten und auf die europäischen Höfe konzentriert waren. Von dort erklärt sich auch das deutsche Wort höflich (mhd. hovelichhovelich).
3.1 Rückblicke auf Höflichkeit in der europäischen Kulturgeschichte
3.1.1 Höflichkeit und gesellschaftlicher Wandel in der Vormoderne
Vom ausgehenden Mittelalter und der Vormoderne1 bis zur heutigen Zeit folgen die kulturellen Vorstellungen von Höflichkeit den sozialen Gesellschaftsformationen und ihrem Wandel (vgl. dazu auch Elias 1939/1976). Schon im Mittelalter diente ein komplexes System von Verhaltensnormen oder -richtlinien einerseits der SelbstdarstellungSelbstdarstellung und andererseits der AbgrenzungAbgrenzung gegenüber der Außenwelt sowie der öffentlichen InszenierungInszenierung sozialer Zughörigkeit (vgl. Watts 2003). Dies steigerte sich in der Barockzeit durch die Ausbildung von EtikettenEtikette und Zeremoniellen als gesellschaftliche StandesritualeStandesrituale. Neben der Betonung des gefälligen Wohlverhaltens spielt auch der taktische Aspekt der „KlugheitKlugheit“ im Sinne des EigennutzensEigennutzen für den Aufstieg in der höfischen Gesellschaft eine Rolle. Erst im 17. Jahrhundert, der eigentlichen Epoche der gepflegten KonversationKonversation,2 erfährt dieses Konzept eine Bedeutungsverengung: War Konversation früher auf den gesellschaftlichen Umgang allgemein bezogen – bei Hofe, später in den Salons –, so wird sie nun auf den geselligen Umganggeselliger Umgang im vertrauten, zwanglosen Gespräch eingegrenzt.