Claus Ehrhardt

Sprachliche Höflichkeit


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Verhalten der Beteiligten beeinflussen oder sogar determinieren könnten. Zur Annäherung an einen sprachwissenschaftlich fundierten Begriff von Höflichkeit ist es unerlässlich, sich genauer anzuschauen, was SprecherInnen in konkreten Interaktionen tun, wie sie sich aufeinander beziehen, welche Konsequenzen das hat, welche Rolle Höflichkeit dabei spielt und welche interaktive Funktion sie hat.

      Wir versuchen, einen ersten Eindruck von dieser Dynamik an einem Beispiel aus einer Talkshow-Diskussion zu vermitteln. Der folgende Dialog ist ein Ausschnitt aus der ARD-Sendung „Anne Will“ vom 16.3.2016. Das Thema dieser Ausgabe der Talkshow ist die Flüchtlingspolitik in Europa. Unter der Überschrift „Flüchtlingsdrama vor dem Gipfel. Ist Europa noch zu retten?“ diskutierten Sebastian Kurz, der damalige Außenminister der Republik Österreich (FPÖ), Heiko Maas, der (zu diesem Zeitpunkt) deutsche Bundesjustizminister (SPD), Katrin Göring-Eckardt, die Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, Richard Sulík, ein slowakischer Europaabgeordneter und Katja Kipping, damals die Vorsitzende der Partei Die Linke mit der Gastgeberin Anne Will.

      Im Ausschnitt, den wir hier in einer sehr ungenauen, dafür aber hoffentlich leicht lesbaren Transkription präsentieren, diskutieren Katrin Göring Eckhardt und Sebastian Kurz über Strategien zur Flüchtlingspolitik und über das Vorgehen der österreichischen Regierung. Diese hatte kurz vorher Grenzkontrollen eingeführt und erklärt, nur noch eine begrenzte Zahl von Flüchtlingen ins Land zu lassen. Gegen Ende des Ausschnittes wird dann Höflichkeit (genauer gesagt Unhöflichkeit) explizit thematisiert:1

      TV-Talkshows sind sehr spezielle GesprächsformateGesprächsformat (vgl. z.B. BurgerBurger 2001). Das heißt auch, dass Höflichkeit und Unhöflichkeit hier unter ganz anderen Umständen ausgehandelt werden als in Alltagsgesprächen und dass andere Verhaltensweisen erwünscht und akzeptabel sind. Die kleine Auseinandersetzung über Unhöflichkeit wird erst dann wirklich verständlich, wenn man auch fragt, welche Rolle sie in diesem speziellen Kontext spielt, wie sie mit der Dynamik der Situation verbunden ist, welche Funktion sie hat und wie sie in diesem Rahmen/von diesen Beteiligten bearbeitet wird.

      Talkshows sind mediale Inszenierungen, rhetorische Schaukämpfe zwischen Medienprofis, die versuchen, ihre Position oder die ihrer Gruppe im öffentlichen Diskurs voranzubringen oder durchzusetzen. Viele BeobachterInnen sehen in dieser Form von Pseudo-Diskussion ein Symptom für den Verfall der öffentlichen Diskussionskultur oder sogar der demokratischen Meinungs- und Willensbildung. Unter anderem wird beklagt, dass in solchen Gesprächen die Regeln und Konventionen für den konsensorientierten Dialog außer Kraft gesetzt werden und dass es oft nicht um das bessere Argument geht, sondern darum, wer lauter schreit, wer unverschämter auftritt oder wer seine PartnerInnen am überzeugendsten diskreditieren kann. Die Beteiligten spielen jeweils eine oftmals vom Format vorgegebene Rolle; sie treten als notorische QuerulantInnen, als linke SpinnerInnen, als konservative HardlinerInnen, als VertreterInnen der Kirche usw. auf und nicht nur als Individuen.

      Die ganze Gesprächssituation ist wesentlich komplexer als die in einem prototypischen Dialog mit SprecherInnen und HörerInnen, die mehr oder weniger höflich zueinander sein können. Für Gespräche in Massenmedien unterscheidet Burger (2001, 1493) zunächst einen inneren und einen äußeren Kreis von Beteiligten: Den inneren Kreis bilden die GesprächsteilnehmerInnen im engeren Sinne, also die DiskutantInnen und die Moderatorin. Zum äußeren Kreis zählen u.a. die FernsehzuschauerInnen, die nicht in das Gespräch eingreifen können. Dazwischen gibt es auch noch das Publikum im Studio, das zumindest indirekt (durch Zurufe oder Applaus) intervenieren und das Diskussionsgeschehen beeinflussen kann. Die Kreise überlagern sich ständig; so entsteht das, was Burger „Mehrfachadressierung“ nennt: Wenn die Moderatorin spricht, wendet sie sich an ihre GesprächspartnerInnen, aber auch an die ZuschauerInnen.

      Goffman (1981, 131ff.) schlägt eine weitere Differenzierung der Gesprächsrollen vor, die nützlich sein kann, um Vereinfachungen zu vermeiden (vgl. Adamzik 2002). Er unterscheidet zunächst zwischen ratifizierten und nicht-ratifizierten TeilnehmerInnen. Ratifiziert sind diejenigen, die in der jeweiligen Interaktion einen offiziell anerkannten Status haben, nicht-ratifiziert also alle, die zwar zuhören können, aber nicht das Recht haben einzugreifen. In normalen Konversationssituation sind alle Personen, die eingreifen können, ratifizierte TeilnehmerInnen. Das heißt aber nicht unbedingt, dass sie auch die AdressatInnen aller Beiträge sind. Vor allem in Gesprächen mit mehr als zwei TeilnehmerInnen gibt es immer Momente, in denen TeilnehmerIn A mit B spricht und sich nur sekundär an die anderen wendet. Man kann und muss also weiter unterscheiden zwischen adressierten und nicht adressierten ratifizierten TeilnehmerInnen, also AdressatIn und HörerIn. Auch nicht-ratifizierte TeilnehmerInnen können sich im Hinblick auf den Grad ihrer Beteiligung unterscheiden.

      In den meisten Fällen können SprecherInnen die Anwesenheit der verschiedenen Arten von ZuhörerInnen wahrnehmen und bei der Planung ihrer Beiträge berücksichtigen. In Mediengesprächen ist das geradezu ein konstitutioneller Bestandteil der Gesprächssituation. Die Sendungen werden ja für ein Publikum, also mehr oder weniger aufmerksame ZuhörerInnen gemacht – einige davon als Saalpublikum anwesend, andere zu Hause vor dem Fernsehgerät. Im Idealfall verfolgen die ZuschauerInnen die Sendung aufmerksam, oft haben sie auch die Möglichkeit, über Telefonanrufe, Mails oder Einträgen in sozialen Netzwerken in die Diskussion einzugreifen, werden also zu ratifizierten TeilnehmerInnen.

      Höflichkeit spielt sich damit auf jeden Fall in verschiedenen Bereichen ab: Im vorliegenden Gesprächsausschnitt sind GE und K mehr oder weniger höflich gegenüber den jeweils adressierten TeilnehmerInnen, aber auch gegenüber den anderen HörerInnen, dem Publikum im Saal, dem TV-Publikum usw.

      Schließlich handelt es sich bei einer solchen Talkshow um ein Diskussionsformat. Die einzelnen TeilnehmerInnen können und müssen einander also widersprechen, um eine Diskussion in Gang zu bringen. Dissens ist mehr als erwünscht. In anderen Kontexten mag es also als unhöflich angesehen werden, wenn SprecherInnen einander widersprechen, hier wäre es geradezu unhöflich gegenüber der Moderatorin, der Redaktion und dem Publikum, wenn die TeilnehmerInnen einander ständig recht geben würden. Die Bedingungen für die Einschätzung von Höflichkeit sind also anders als in vielen anderen Gesprächsformen (vgl. EhrhardtEhrhardt 2011).

      Der kleine Streit, der hier dokumentiert wurde und der in dem Vorwurf gipfelt, unhöflich zu sein, findet auf mindestens zwei Ebenen statt: Es geht inhaltlich um die richtigen Maßnahmen der Flüchtlingspolitik und formal um das Rederecht. GE ist von der Moderatorin eingeladen worden, ihre Position darzulegen und setzt zu einem längeren Statement an. Gleich am Anfang wird sie dabei von K unterbrochen, lässt sich dadurch aber nicht davon abhalten, weiter zu sprechen. Nach wenigen Sätzen wird sie erneut von K unterbrochen, und an dieser Stelle beginnt eine etwas unübersichtliche Phase, in der die beiden Politiker sich ständig gegenseitig unterbrechen und synchron (übereinander) reden. Es entsteht eine lebhafte Diskussion zwischen den beiden, die sich immer weiter steigert. Die Phase wird dadurch beendet, dass GE ihrem Partner in einem etwas resignierten Tonfall vorwirft, unhöflich zu sein.

      Aller Wahrscheinlichkeit bezieht sie sich damit auf die Tatsache, dass sie in der Entwicklung ihres Gedankens mehrmals durch Unterbrechungen gestört wird. K verletzt also die Regel, dass man in einem Gespräch die anderen ausreden lassen sollte. Das gehört zu den formalen, kodifizierten HöflichkeitskonventionenHöflichkeitskonvention – und zu den Konventionen, deren Gültigkeit und Sinnhaftigkeit kaum bestritten, aber in der Praxis ständig verletzt werden. Auch in diesem Punkt ist K aber nicht einverstanden. Er widerspricht explizit und behauptet, es handele sich nicht um eine Unhöflichkeit, weil er ja nur versuche, die Zahlen korrekt widerzugeben. Es ist nicht ganz klar, worauf sich sein Widerspruch bezieht: Hält er es für nicht unhöflich, eine Gesprächspartnerin zu unterbrechen oder Statistiken richtig zu interpretieren? Er changiert hier wohl zwischen der inhaltlichen und der formalen Ebene des Gesprächs.

      Höflichkeit und Unhöflichkeit werden in diesem Gespräch also im Sinne der Etikette aufgegriffen. Wenn man versuchen möchte, den zugrunde liegenden Höflichkeitsbegriff herauszuarbeiten, dann muss man auf die bereits beschriebene alltägliche Auffassung zurückkommen: Höflich sein heißt, sich an die in der Gesellschaft anerkannten Regeln und Konventionen