Gesine Manuwald

Römisches Theater


Скачать книгу

dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen erhalten, manchmal nicht eindeutig zu verstehen und möglicherweise unzuverlässig sind, ist eine Überblicksdarstellung des römischen Dramas in besonderer Weise mit dem Problem der Quellen konfrontiert. Sofern man diese jedoch mit der gebotenen Vorsicht überprüft, interpretiert und für das Gesamtergebnis auswertet, kann es vielleicht gelingen, immer mehr über die Geschichte der römischen Dramas zu ermitteln, auch wenn man akzeptieren muss, dass es Bereiche gibt, in denen sich wegen des zur Verfügung stehenden Materials keine sicheren Antworten finden lassen.

      Was die Terminologie angeht, so werden die frühen Dichter und die frühe Periode des römischen Dramas als ‚republikanisch‘ und nicht als ‚archaisch‘ bezeichnet: ‚Republikanisch‘ kann eher als eine neutrale chronologische Bezeichnung verstanden werden, während ‚archaisch‘ eine Bewertung aus späterer Sicht impliziert. Entsprechend werden Autoren, die sich nach der republikanischen Zeit über diese äußern, als ‚später‘ bezeichnet (sofern keine genauere Datierung notwendig ist). Außerdem werden die Begriffe ‚Nation‘ und ‚national‘ wegen ihrer anachronistischen Implikationen so weit wie möglich vermieden; wenn sie in Ermangelung einer besseren Bezeichnung verwendet werden, soll das nicht eine ‚nationalistische‘ Perspektive implizieren und eine Vereinfachung der komplexen Situation in Rom bedeuten, sondern auf eine sich entwickelnde Literatur verweisen, die in der eigenen Sprache der Römer geschrieben ist und sich mit Themen befasst, die für Rom wichtig sind.

      Zur Unterscheidung der zwei Haupttypen dramatischer Dichtung sind die Bezeichnungen ‚ernstes Drama‘ und ‚leichtes Drama‘ verwendet, die jeweils verschiedene Formen von erhabenen, möglicherweise tragischen bzw. unterhaltsamen, mehr bodenständigen Stücken umfassen. Diese Beschreibungen anstelle von ‚tragischem Drama/Tragödie‘ und ‚komischem Drama/Komödie‘ sind gewählt als möglichst umfassende Bezeichnungen, die Assoziationen mit bestimmten dramatischen Gattungen oder speziellen Charakteristika minimieren.

      Die vorliegende Einführung beruht in vielen Fragen, etwa der Textgestaltung oder der organisatorischen Aspekte des Theaterwesens, auf Ergebnissen früherer wissenschaftlicher Forschung (▶ Auswahl in Bibliographie), auch wenn das nicht im Einzelfall dokumentiert ist. Für die Textzitate in diesem Buch seien nur einige Angaben zu den Quellen gemacht.

      Die Texte der fragmentarisch überlieferten Dramatiker sind zusammengestellt in den Ausgaben von O. Ribbeck aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Seine Sammlungen der tragischen und der komischen Fragmente (2. Aufl., 1871/1873; 3. Aufl., 1897/1898) sind weiterhin die einzigen kritischen Editionen, die alle Dichter und dramatischen Gattungen beinhalten. Ribbeck gibt außerdem wichtige Hinweise auf sein Verständnis der Stücke in den Einführungen zur zweiten Auflage seiner Ausgaben und in seinem Buch Die römische Tragödie im Zeitalter der Republik (1875). Die Fragmente der bedeutenderen republikanischen Dramatiker sind vielleicht leichter zugänglich in E.H. Warmingtons zweisprachiger Ausgabe als Teil der Remains of Old Latin der Loeb Classical Library (1930er Jahre), da dieses vierbändige Werk (jetzt auch digital zugänglich) englische Übersetzungen, kurze Einführungen zu den einzelnen Autoren und Dramen sowie Hinweise auf den Kontext jedes Fragments (in der Sicht des Herausgebers) enthält. Die Reihe der Remains of Old Latin wird gegenwärtig überarbeitet unter dem neuen Titel Fragmentary Republican Latin. Die kritische Ausgabe von O. Ribbeck wird für die Tragödien nach und nach ersetzt durch die vierbändige Edition Tragicorum Romanorum Fragmenta (TrRF), wovon die ersten beiden Bände (Livius Andronicus, Naevius, Tragici minores, Fragmenta adespota; Ennius) bereits erschienen sind (2012).

      Bei den Textzitaten von Fragmenten in diesem Buch ist die benutzte Ausgabe durch die Initiale der Herausgeber nach der jeweils übernommenen Zählung identifiziert (Angaben in der Bibliographie). Zitate aus den vollständig erhaltenen Dramen von Plautus, Terenz und Seneca, für die jeweils eine Reihe von Editionen, Kommentaren und Übersetzungen in moderne Sprachen vorliegt, folgen den gängigen Ausgaben.

      Die Abkürzungen für die Namen antiker Autoren und die Titel ihrer Werke orientieren sich an den Konventionen in Der Neue Pauly. Die für die Namen der Dramatiker und die Titel der vollständig erhaltenen Dramen verwendeten Abkürzungen sind in Appendix 1 aufgeführt.

      2. Frühe römische Dramendichtung im Kontext

      2.1. Kulturelle Entwicklungen

      Nach römischer Tradition soll die Stadt Rom 753 v. Chr. gegründet worden sein. Als das literarische Drama in Rom in der Mitte des dritten Jahrhunderts v. Chr. aufkam, waren die Römer jedenfalls bereits über mehrere Jahrhunderte in Kontakt mit anderen Völkern in Italien und anderswo im Mittelmeerraum und hatten deren jeweilige politische Organisationsform, Lebensweise und Kultur kennengelernt. Diese Situation führte zu einem regen Austausch, wie sich an Handelsbeziehungen und der Übernahme von Bräuchen und Kulturgut durch die Römer zeigt. Zu den Völkern, mit denen die Römer direkten Kontakt hatten, gehören Griechen, Karthager, Etrusker und Osker.

      Abb. 1

      apulische Vase

      Rotfiguriger Volutenkrater, dem Darius-Maler zugeschrieben, aus Apulien, ca. 340–320 v. Chr. (London, British Museum, Inv.-Nr. 1856,1226.1)

      Auf der abgebildeten Seite der Vase ist im oberen Register eine Götterversammlung dargestellt (mit Pan, Apollo, Athene, Aphrodite, Poseidon). Im unteren Register erschrecken eine Furie und ein Stier den von seinem Vater Theseus verfluchten Hippolytus auf dem Wagen; ein alter Diener eilt verstört hinterher. Die Abbildung dieser Szene lässt darauf schließen, dass griechische Mythen bereits vor Abfassung der ersten lateinischen literarischen Dramen in Italien bekannt waren (sie basiert vielleicht auf Euripides’ Hippolytus).

      Griechen waren seit der Kolonisation der Küstengebiete im Süden des Festlands und der benachbarten Inseln (Magna Graecia) im achten bis sechsten Jahrhundert v. Chr. in Italien präsent. Importierte griechische Vasen vom sechsten Jahrhundert v. Chr. an sowie in Italien hergestellte (bes. in Apulien, Lukanien, Kampanien), vor allem seit Anfang des vierten Jahrhunderts v. Chr., zeigen aus dem griechischen Mythos bekannte griechische Helden und Heldinnen. Nachdem unter Führung Athens 444/443 v. Chr. die Kolonie Thurioi am Golf von Tarent von Griechen neu besiedelt worden war (und Tarent 433/432 v. Chr. die griechische Stadt Herakleia in Lukanien als Kolonie neu etabliert hatte), wurden die kulturellen Beziehungen zwischen Griechenland und dem italischen Festland enger. Bis zum Ende der Kriege gegen Pyrrhus (Schlacht bei Beneventum 275 v. Chr.) gelangten die meisten Städte in Magna Graecia unter römische Kontrolle. Auch der Erste Punische Krieg (264–241 v. Chr.), von dem ein großer Teil in Sizilien ausgetragen wurde, hatte den Nebeneffekt, dass viele Römer griechische Kultur näher kennenlernten.

      Seit dem späten dritten Jahrhundert v. Chr. intensivierten sich die Verbindungen zwischen Griechen und Römern und veränderten sich zugleich. Das hing damit zusammen, dass sich nach den Eroberungszügen Alexanders des Großen die ‚Hellenistische Welt‘ herausbildete, in der die griechische Kultur weniger ‚griechisch‘ wurde und sich weit über Griechenland hinaus ausdehnte, sowie mit den damaligen politischen Entwicklungen, vor allem Roms Eroberung vieler Gebiete des Mittelmeerraums. In dieser Anfangsphase der verstärkten Kontakte mit Griechenland scheinen Bestandteile der griechischen Kultur in Rom übernommen worden zu sein, vermutlich vor allem weil Rom durch diese Übernahme von Kennzeichen der als höher angesehenen Zivilisation seine Position im Mittelmeerraum zu sichern bemüht war.

      Die Beziehungen zwischen Griechen und Römern lassen sich am ehesten als ein dynamischer Prozess in einer Kontaktzone beschreiben. Dass die Wirkungen in der römischen Kultur deutlicher wahrzunehmen sind, ist wahrscheinlich die Folge davon, dass in kultureller Hinsicht die Römer sich gegenüber den ‚etablierten‘ Städten in Griechenland in der Position der Nehmenden befanden, verbunden mit einer erstaunlichen Offenheit und Flexibilität der Römer gegenüber Einrichtungen anderer Völker (Pol. 6,25,11; vgl. auch Cic. Tusc. 1,1–6; 4,1–7; Sall. Catil. 51,37–38). Die Römer waren daher das erste Volk in Europa, das seine eigene Kultur