Gesine Manuwald

Römisches Theater


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Künstlern wurde, weil der pantomimische Tänzer mit einem etruskischen Wort ister genannt wurde, die Bezeichnung histriones [‚Schauspieler‘] verliehen. [7] Diese warfen sich nicht, wie vorher, dem Fescenninischen Vers entsprechend, ungestaltete und rohe Verse aus dem Stegreif im Wechselgesang zu, sondern führten Potpourris [saturae] auf mit Melodien, wobei der Gesang bereits für den Flötenspieler aufgeschrieben war und die Tanzbewegung dazu passte. [8] Nach etlichen Jahren soll Livius [Andronicus], der als erster den Schritt wagte, über die Potpourris hinausgehend ein Drama mit einem Handlungszusammenhang zu konstruieren [240 v. Chr.] – er war, versteht sich, zugleich, was damals alle waren, Schauspieler seiner eigenen Dichtungen –, [9] als er, mehrmals wieder auf die Bühne gerufen, seine Stimme heiser gesungen und, nachdem er die Erlaubnis erbeten hatte, einen Jungen zum Singen vor den Flötenspieler gestellt hatte, die Dichtung mit erheblich lebendigerer Tanzbewegung dargestellt haben, weil der Gebrauch der Stimme ihn nicht hinderte. [10] Von da fing es an, dass andere zu den Darbietungen der Schauspieler sangen [Text unsicher] und lediglich die Dialoge für ihre eigene Stimme blieben. [11] Nachdem sich die Sache durch diese Art dramatischer Dichtung von Witz und losem Scherz entfernt und sich das Spiel allmählich in Kunst verwandelt hatte, begann die Jugend, nachdem die Aufführung von Dramen den Schauspielern überlassen war, selbst untereinander nach alter Sitte in Verse gefasste Scherze vorzutragen; daraus entstand, was später ‚Nachspiele‘ [exodia] genannt und besonders mit Atellanen verbunden wurde. [12] An diesem Genre von Spielen, von den Oskern übernommen, hielt die Jugend fest und ließ nicht zu, dass es von den [berufsmäßigen] Schauspielern verunreinigt würde. Daher besteht noch die Regelung, dass die Schauspieler der Atellanen nicht aus ihrer Tribus ausgestoßen werden und Kriegsdienst leisten, als ob sie nichts mit der Schauspielkunst zu tun hätten. [13] Unter die kleinen Anfänge anderer Dinge scheint auch der erste Ursprung der Spiele einzuordnen zu sein, damit klar wird, wie eine Sache von einem vernünftigen Anfang zu dem jetzigen kaum für reiche Königreiche zu ertragenden Wahnsinn gekommen ist.

      Moderne Forscher haben kritisiert, dass Livius die Entwicklung des römischen Dramas so darstelle, als ob es ursprünglich von den Etruskern importiert und dann einheimisch ausgeformt worden sei, wobei er griechischen Einfluss nicht erwähne. Livius richtet jedoch seinen Blick auf Form und Stil der Aufführungen und berücksichtigt nicht die Inhalte oder Handlungszusammenhänge der Stücke: Er konzentriert sich vor allem auf die Darlegung einer kohärenten Entwicklung von einfachen und vielversprechenden Anfängen zu etwas Pompösem und Degeneriertem. Die ausdrückliche Würdigung eines griechischen Elements im Verlauf dieses Prozesses hätte das evolutionäre Modell beeinträchtigt. Dennoch blendet Livius den griechischen Einfluss auf das römische Drama nicht völlig aus. Dass der von Livius Andronicus erzielte Fortschritt heruntergespielt wird, zeigt sich daran, dass die von ihm inaugurierte Veränderung in einem Relativsatz berichtet wird, während die Haupterzählung seine Bedeutung für den Stil der Aufführungen hervorhebt. Livius’ Betonung des etruskischen Einflusses mag einseitig sein, ist aber nicht falsch: Die Nachwirkung etruskischer Theaterkultur in römischen Aufführungen wird beispielsweise durch linguistische Belege bestätigt (▶ Kap. 2.3).

      Details der von Livius beschriebenen Entwicklung müssen unsicher bleiben und lassen sich nicht verifizieren. Dennoch kann das Jahr 364 v. Chr. als ein signifikantes Stadium in der Geschichte der Spiele in Rom gelten. Denn für die Erfindung dieses Datums durch Livius oder seine Quellen gibt es kein erkennbares Motiv: Ereignisse wie eine Pest und eine darauf folgende Hinwendung an Etrurien dürften in den offiziellen Aufzeichnungen, die den damaligen römischen Historikern zugänglich waren, eingetragen gewesen sein. Ein konkretes Datum oder einen Grund für den nächsten großen Schritt, Livius Andronicus’ Innovation, nennt Livius nicht. Das traditionelle Datum (240 v. Chr.), unmittelbar nach dem Ende des Ersten Punischen Kriegs, ist aus anderen Quellen zu erschließen (Cic. Brut. 72; Gell. 17,21,42; Cassiod. chron., p. 128 MGH AA 11,2 [zu 239 v. Chr.]). Auch Livius erklärt die ersten Dramenaufführungen in Rom also als Ergebnis einer politischen Entscheidung in einer kritischen Situation der Gemeinschaft; nur ist sein Anfangspunkt 364 und nicht 240 v. Chr., wobei grundlegende Veränderungen im Jahr 240 v. Chr. für ihn lediglich einen Schritt in einer fortlaufenden Entwicklung markieren.

      Da in der Notiz bei Gellius das Datum 240 v. Chr. nicht nur durch die Konsuln dieses Jahres identifiziert ist (wie bei Cicero), sondern auch durch den Abstand zum Tod von Sophokles, Euripides und Menander (Gell. 17,21,42), soll damit vermutlich eine Beziehung zwischen den Theaterstücken des Livius Andronicus und denen der griechischen Dichter markiert werden und ist es plausibel, dass Livius Andronicus’ Innovation auf Tragödien wie auf Komödien bezogen ist. Erhaltene Fragmente zeigen, dass Livius Andronicus sowohl Tragödien als auch Komödien griechischen Stils geschrieben hat; es ist lediglich unsicher, ob beide Typen bei der ersten Gelegenheit 240 v. Chr. aufgeführt wurden, da die Quellen zwischen Singular (Cicero: fabula) und Plural (Gellius: fabulae; Cassiodor: tragoedia et comoedia) variieren. Auf jeden Fall belegen die Fragmente, dass Livius Andronicus Dramen mit Handlungsablauf (argumentum) geschrieben hat, im Gegensatz zu früheren improvisierten Darstellungen.

      Nachdem Livius Andronicus ein Stück oder Stücke an den Spielen von 240 v. Chr. zur Aufführung gebracht hatte, etablierten sich in der Folgezeit Dramen griechischen Stils in Rom. Reste dramatischer Texte aus der Zeit vor Livius Andronicus sind nicht erhalten. Wenn Livius Andronicus nicht der Erfinder dieser Art von Drama war, muss er Dramen jedenfalls in eindrucksvollerer Weise oder zu einem günstigeren Zeitpunkt präsentiert haben als etwaige Vorläufer, da er später als Roms erster Dramatiker galt. Auch wenn Livius Andronicus’ Datierung in spätrepublikanischer Zeit diskutiert wurde, zeigen Ciceros Argumente gegen alternative Scenarios, dass die Tradition von Livius Andronicus als ‚dem ersten‘ bereits in der späten Republik bestand (Cic. Brut. 72–73). Das entscheidende Faktum, dass Livius Andronicus’ Dramen von griechischen Modellen adaptiert sind, nennt keine der antiken Quellen, aber Bezugnahmen auf fabula, tragoedia oder comoedia und auf Stücke mit Handlungslinien implizieren es. Seit dieser Zeit gab es in Rom neben verschiedenen Typen einheimischer Vorführungen öffentliche Vorstellungen vollständiger von griechischen Vorbildern adaptierter Stücke.

      Livius Andronicus’ Dramen griechischen Stils und darauf aufbauende spätere Stücke bilden, was man das ‚römische literarische Drama‘ oder ‚Roms dramatische Literatur‘ nennt. Diese Bezeichnungen sind eindeutig, wenn damit Dramenaufführungen auf der Basis schriftlich fixierter Texte von nicht-schriftlichen, oft improvisierten Aufführungen unterschieden werden sollen (wobei ‚literarisch‘ nicht eine Abgrenzung vom ‚Bühnendrama‘ impliziert). Über diese Definition hinaus wirft der Begriff ‚literarisches Drama‘ jedoch die Fragen auf, ob es andere Charakteristika gibt, die diese Art von Drama distinktiv und literarisch machen, ob die Anwendung dieser Bezeichnung einen Bruch mit vorausgehenden Traditionen impliziert und warum diese Art von Drama gerade in der Mitte des dritten Jahrhunderts v. Chr. in Rom übernommen wurde.

      Für eine Antwort auf die letzte Frage ist zu berücksichtigen, dass das römische ‚literarische‘ Drama zu einem Zeitpunkt mit einer einzigarten Kombination von Faktoren aufkam: eine Bereitschaft der Römer, griechische Kultur zu übernehmen (nach langem und intensivem Kontakt mit Griechen), ein ausreichend hoher Stand der Entwicklung einheimischer Traditionen, sodass versierte Schauspieler zur Verfügung standen, ein intensiver Austausch mit anderen Völkern Italiens, die geopolitische Situation nach dem Ende des Ersten Punischen Kriegs, ein Drang zu römischer Selbstdarstellung gegenüber den griechischen Städten Italiens und der hellenistischen Welt insgesamt, ein Bestreben in Rom, den Stand von Kultur und Theater in den eroberten Gebieten zu erreichen, das besonders von der römischen Nobilität getragen wurde, das Vorhandensein eines Dichters, der sich mit griechischer Literatur und Kultur auskannte, aber in der Lage war, auf Latein zu schreiben und griechische literarische Werke so zu adaptieren, dass sie für ein römisches Publikum verständlich und interessant waren.

      In dieser Zeit des beginnenden Hellenismus verlangten kulturelle Veränderungen, dass ambitionierte expandierende Städte, wenn sie eine internationale Stellung behaupten wollten, an der damals dominierenden griechischen Kultur teilnahmen. Mit diesem Bestreben ist wahrscheinlich zu erklären, dass sich in