Philipp Sandermann

Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit


Скачать книгу

paradox anmutenden Auffassung steckt die Vermutung, dass über Theorien der Sozialen Arbeit genau deswegen so viel gesprochen und geschrieben wird, weil Soziale Arbeit von den meisten Menschen als eine äußerst praktische, ja geradezu „handfeste“ Angelegenheit betrachtet wird, und sie damit zugleich für viele Menschen zu einer relevanten Angelegenheit wird.

      Was aber von genügend Leuten als relevant angesehen wird, verlangt nach Klärung. Und hier kommen Theorien ins Spiel. Denn Theorien kommen da auf, wo sich Menschen ein Bild von einer Sache machen wollen, sei es, um etwas besser in Hinsicht auf bestimmte Zusammenhänge zu verstehen, um etwas im Sinne von Kritik hinterfragen zu können, um aus dem Bild heraus ein Orientierungsschema für zukünftiges Handeln abzuleiten oder um zukünftige Entwicklungen besser abschätzen zu können.

      Allein die Tatsache, dass sich viele Menschen für Soziale Arbeit interessieren, heißt aber andererseits noch nicht, dass sich alle für ein und dasselbe interessieren. Das gilt auch und gerade für Studierende von Studiengängen der Sozialen Arbeit und verwandter Studienprogramme. In der Regel lassen sich die Interessen dieser Studierenden durchaus differenzieren, und zwar nicht nur zwischen verschiedenen Studiengängen mit ihren zunehmend spezifischeren BA- und MA-Profilen, sondern auch studiengangsintern. Hier fallen zum einen Interessensunterschiede hinsichtlich potenzieller Berufsfelder auf, die sich spätestens nach Studienabschluss eröffnen können (so etwa vorrangige Interessen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der Altenhilfe, der Hilfe für Menschen mit Behinderungen, der Migrations- und/oder Flüchtlingshilfe, der geschlechtsspezifischen Sozialarbeit, der sozialpädagogischen Aus-, Fort- und Weiterbildung etc.). Zum anderen kann man aber, ganz grob gesprochen, auch zwischen eher „praxisorientierten“, am Handeln ausgerichteten Interessen, und eher „theorieorientierten“, am Verstehen ausgerichteten Interessen Studierender unterscheiden.

      Dass dieser Unterschied kein so einfacher Gegensatz, und schon gar nicht so selbstverständlich ist, wie es auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag, werden wir bereits zu Beginn dieses Buches herausarbeiten (Kap. 1). Denn dies zu verstehen erachten wir als äußerst wichtig. Das gilt nicht nur für das Folgeverständnis aller weiteren Kapitel des vorliegenden Buches, sondern auch für ein aus unserer Sicht angemessenes Gesamtverständnis davon, was es heißt, Soziale Arbeit zu studieren. Wie wir in Kap. 1 zunächst in logisch-systematischer Weise, und in Kap. 2 dann in historischem Zugriff auf die Vorgeschichte von Theorien der Sozialen Arbeit zeigen werden, handelt es sich bei Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit nämlich um keinen einfachen und sich gegenseitig ausschließenden Widerspruch, sondern stattdessen sogar um einen sich gegenseitig hervorbringenden, und damit füreinander notwendigen Gegensatz. Damit lässt sich bereits eine unserer Grundannahmen für das Zustandekommen von Theorien der Sozialen Arbeit als Gesamtzusammenhang verdeutlichen. Man könnte auch sagen, dass wir hier bereits einen ersten Baustein für unsere theoretische Perspektive auf Theorien der Sozialen Arbeit haben, die – wie wir eingangs hervorgehoben haben – notwendig wird, wenn wir mit diesem Buch Übersichtswissen zu Theorien der Sozialen Arbeit bereitstellen wollen.

      Wie wir in Kap. 3 zeigen werden, gehen nicht nur Studierende, sondern auch Theorien der Sozialen Arbeit in der Tat unterschiedlich vor, wenn es darum geht, Soziale Arbeit als solche zu identifizieren und zu verstehen. Das ist im Grunde genommen nicht weiter verwunderlich. Denn genauso wie individuelle Studierende der Sozialen Arbeit während ihres Studiums verschiedene Interessen in der Beschäftigung mit den Inhalten ihres Studiums entwickeln, und sich daher auch auf unterschiedliche Art und Weise mit dem beschäftigen, was sie unter Sozialer Arbeit verstehen, so behandeln auch Theorien der Sozialen Arbeit nur auf den ersten Blick immer dasselbe. Liest man genauer in sie hinein, so wird man leicht feststellen können: Theorien der Sozialen Arbeit thematisieren nicht immer dasselbe, sondern Unterschiedliches. Dafür werden unterschiedliche Begriffe genutzt, und es wird auf unterschiedliche Eindrücke fokussiert, die jeweils zum Kern der theoretischen Beobachtung gemacht werden. Soziale Arbeit wird also – je nach bemühter Theorie – zu etwas sehr Unterschiedlichem, und das Spektrum dieser Unterschiedlichkeiten wird das sein, was wir in Kap. 3 zunächst einmal vor allem demonstrieren wollen.

      Die Einsicht in diese Unterschiedlichkeiten mag zunächst etwas beunruhigen. Das gilt gerade dann, wenn man bisher dachte, sich bei der Sozialen Arbeit mit etwas „Handfestem“ zu beschäftigen. Letztlich ist es aber plausibel, dass man mit verschiedenen Theorien der Sozialen Arbeit zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt, was die jeweilige Beantwortung der Frage: „Was ist Soziale Arbeit?“ angeht. Denn würden alle vorhandenen Theorien der Sozialen Arbeit immer zu den gleichen Ergebnissen kommen, würde es im Grunde wenig Sinn machen, überhaupt von Theorien der Sozialen Arbeit im Plural zu sprechen.

      Dieser Umstand muss daher auch keineswegs Orientierungslosigkeit oder gar Enttäuschung auslösen. Ebenso wenig begreifen wir ihn als generellen Hinweis auf ein umfassendes Theoriedefizit der Sozialen Arbeit, wie das zuweilen getan wird (Wilhelm 2006; Rauschenbach/Züchner 2012). Wir werden dementgegen im Laufe dieses Buches immer wieder herausarbeiten, dass die Vielfalt bisher vorliegender Theorien der Sozialen Arbeit unserer Einschätzung nach ein Hinweis auf eine gewisse Lebendigkeit der wissenschaftlichen Diskussion zur Sozialen Arbeit ist.

      Die Unterschiedlichkeit von Theorien der Sozialen Arbeit in Hinsicht auf ihre jeweiligen Ergebnisse bedeutet nun im Umkehrschluss aber auch nicht, dass Theorien der Sozialen Arbeit nur Unterschiede und keinerlei Gemeinsamkeiten aufweisen würden. Zwar wird diese Einschätzung zuweilen vertreten und dann gewöhnlich mit dem Hinweis versehen, „der“ Gegenstand der Sozialen Arbeit sei so vielfältig und komplex, dass nur eine divers zusammengesetzte Vielzahl von Theorien ihm hinreichend gerecht werden könne (Füssenhäuser/Thiersch 2015). Ein solches Verständnis von Theorien der Sozialen Arbeit und ihren Möglichkeiten ersetzt aber unseres Erachtens die gerade genannte Defizitdiagnose lediglich durch eine Art Überforderungsdiagnose, die an die bisher vorzufindenden Theorien der Sozialen Arbeit vergeben wird. Denn hier wird davon ausgegangen, dass der Gegenstand der Sozialen Arbeit an und für sich so unüberschaubar und vielfältig sei, dass es vielerlei, und vor allem mehr Theorien als bisher brauche, um Soziale Arbeit in der Summe dann (zumindest annähernd) ganz zu erfassen.

      Wir werden demgegenüber in Kap. 3 unserer Einführung verdeutlichen, dass jede der vorgestellten Theorien die Soziale Arbeit in ihrer eigenen Art und Weise durchaus „ganz“ erfasst. Die vorliegenden Theorien der Sozialen Arbeit sind also weder defizitär noch überfordert, sondern liegen in ihren jeweiligen Auffassungen von Sozialer Arbeit unvereinbar quer zueinander (und dies ist aus unserer Sicht, das möchten wir nochmals hervorheben, völlig erwartbar, wenn man sich verschiedene Theorien im Vergleich anschaut).

      Nimmt man dies ernst, so zeigt sich damit zugleich, dass man nicht nur verschiedene Theorien der Sozialen Arbeit unterscheiden kann, sondern eben auch viele Gegenstände der Sozialen Arbeit. Es „gibt“ also gar nicht „die“ Soziale Arbeit, sondern – je nach Theorie – eine ganze Menge, was man sich sinnvollerweise unter Sozialer Arbeit vorstellen kann. Und genau hierin, so könnte man sagen, liegt auch die Funktion unterschiedlicher, miteinander um ein angemessenes Verständnis von Sozialer Arbeit ringender Theorien.

      Das heißt dann aber zugleich, dass man die Gegenstandsauffassungen einzelner Theorien nicht einfach additiv nebeneinanderstellen kann, um hieraus dann automatisch auch Gemeinsamkeiten der Theorien zu erkennen. Will man Studierenden Wissen zu Theorien der Sozialen Arbeit vermitteln, das auch Gemeinsamkeiten der vorliegenden Theorien deutlich werden lässt, ist es sinnvoller, die Theorien gezielt auf einige ihrer Kernaussagen und deren Zustandekommen hin zu befragen. Wir werden dementsprechend bereits unsere Darstellung einzelner Theorien in Kap. 3 entlang dreier ausgewählter Fragen strukturieren. Diese lauten:

      1. Welches Erkenntnisziel formuliert die Theorie?

      2. Wo und wie beobachtet die Theorie Soziale Arbeit, und auf welchen Vorannahmen werden diese Beobachtungen