zu einer Person man verfügt, umso handlungsfähiger bleibt man im Umgang mit ihr, weil es mit höherer Wahrscheinlichkeit gelingt, Sinn in den Äußerungen und Handlungen des Anderen zu sehen. In paradoxer Weise wird man jedoch zugleich die Erfahrung machen, dass immer mehr verschiedene Bilder zu der befreundeten Person dazu führen, dass man immer weniger darüber weiß, wer dieser Mensch „eigentlich“ ist.
So kann man allgemein auch sagen, dass Wissenszuwachs immer zugleich auch zu mehr Unsicherheit in Bezug auf die Selbstverständlichkeit dieses Wissens führt (Weingart 2003). Das Gleiche gilt im Prinzip für die Soziale Arbeit und hier spezifisch für jedes Bild von „Praxis der Sozialen Arbeit“, das man sich machen kann. Auch hierzu wird man im Laufe des Studiums, während der Ableistung von Praktika, in der ehrenamtlichen, nebenberuflichen und hauptberuflichen Tätigkeit immer wieder einzelne Erfahrungen machen, die zunächst höchst unterschiedlich sind, aber in denen man (auf der Basis von Theorien und theoretischen Schlüssen) immer wieder Muster entdecken kann. Da sich jedoch die Erfahrungen, die man macht, immer wieder unterscheiden werden, wird es gewinnbringend sein, auch hierzu immer wieder unterschiedliche Theorien zu entwickeln, die sich durchaus auch gegenseitig widersprechen dürfen, solange sie jeweils in sich schlüssig aufgebaut sind und daher etwas begreiflich machen können. Je mehr solcher Theorien man kennenlernt, umso komplizierter wird es aber auch, begründet zu entscheiden, welche Theorie nun die „beste“, „überzeugendste“ oder gar „wahrste“ ist. Denn „in sich“ machen sehr viele Theorien Sinn.
Wenn man sich näher mit Theorien der Sozialen Arbeit beschäftigt, macht man daher bald die Erfahrung, dass viele von ihnen jeweils spezifisch verstehbar machen, was Praxis Sozialer Arbeit und was „gute Praxis“ Sozialer Arbeit sein könnte. Man bezeichnet diese Einsicht in die „Inkommensurabilität“ verschiedener Theorien in der Wissenschaftssoziologie auch als sog. Duhem-Quine-These, unter Bezugnahme auf ihre beiden Referenzautoren Pierre Duhem und Willard V.O. Quine (Weingart 2003, 58).
Mit Inkommensurabilität bezeichnet man die Unversöhnbarkeit zweier Aussagen(-systeme) bei gleichzeitiger Ebenbürtigkeit der getroffenen Aussagen in Hinsicht auf ein bestimmtes Kriterium, z. B. „Wissenschaftlichkeit“.
Diese widersprüchliche Vielfalt von in sich jeweils stringent erscheinenden Theorien begegnet einem logischerweise nicht nur dort, wo es um ausgewiesene „Theorien der Sozialen Arbeit“ geht, sondern auch in anderen Wissenschaftsbereichen, so etwa bei psychologischen, soziologischen, philosophischen, erziehungs- oder politikwissenschaftlichen Theorien. Überall macht man die Erfahrung, dass eine bestimmte Theorie in überzeugender Weise die Welt beschreibt, während eine andere Theorie in ebenso überzeugender Weise die Welt gänzlich anders beschreibt. Das anfangs oft irritierende Ergebnis dieser Beobachtung ist, dass man auf einmal nicht mehr eine, sondern zwei und mehr Welten vor sich sehen kann – wenngleich es unmöglich ist, in exakt demselben Moment mehrere dieser Welten zugleich zu sehen. Letzteres hängt mit der oben erwähnten Inkommensurabilität der Weltsichten zusammen, die durch unterschiedliche Theorien hervorgebracht werden.
Wenn man sich auf dieses Ergebnis einlässt, wird es nach und nach möglich, verschiedene „theoretische Brillen“, durch die man die Welt betrachten kann, aktiv auf- und auch wieder abzusetzen. Theorien werden dann als „Werkzeuge“ handhabbar – eben genauso, wie Brillen Werkzeuge sind.
Dass man je nach „Theorie-Brille“, die man benutzt, Unterschiedliches sehen kann, obwohl man damit auf den ersten Blick doch vermeintlich immer auf ein und dasselbe schaut, gilt für alle Aspekte im Studium der Sozialen Arbeit: z.B. für die Betrachtung von „Kindern“, „Jugendlichen“ oder „Menschen mit Beeinträchtigungen“ (also spezifische sog. „AdressatInnengruppen“ der Sozialen Arbeit), aber auch für die Betrachtung von „Professionalität“, für die Frage danach, was eigentlich eine „Fachkraft“ in der Sozialen Arbeit ausmacht oder was das Typische am Habitus von „SozialpädagogInnen“ ist.
Als Habitus bezeichnet man durch Sozialisation erworbene, vorbewusste „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1987, 101), die z. B. in Lebensstil, Geschmack, Kleidung oder Sprache einer Person zum Ausdruck kommen. Der Habitus hängt laut Bourdieu mit der sozialen Stellung in der Gesellschaft oder einem bestimmten sozialen Feld zusammen und bildet ein System von Dispositionen, das als Erzeugungsmodus menschlicher Praxisformen erklärbar sowie letztlich auch voraussehbar machen soll, warum Menschen in einer bestimmten Weise in ihrer sozialen Umwelt agieren
Und auch bei der Betrachtung von so unterschiedlichen, und auf den ersten Blick so angenehm eindeutig wirkenden Dingen wie „psychischen Störungen“, „sozialen Dienstleistungsorganisationen“ oder „rechtlichen Regelungen“ lässt sich feststellen: Letztlich entscheidet die „Theorie-Brille“, die man gerade aufgesetzt hat, darüber, was man darunter verstehen bzw. nicht verstehen kann. Zur nochmaligen Verdeutlichung dieses Umstands wählen wir ein Beispiel aus der auf Studierende oftmals klar und eindeutig wirkenden Nachbardisziplin der Psychologie.
Wenn es in der klinischen Psychologie bspw. um „psychische Störungen“ geht, so macht es nicht einfach „in der Sache“, sondern qua Theorie einen Unterschied, ob man dabei bspw. an eine „Angststörung“ oder an eine „Inkongruenz“ denkt. Denn diese beiden Label verbinden sich nicht notwendigerweise mit unterschiedlichen empirischen Phänomenen, sondern ergeben sich aus theoretisch inkommensurablen Theorieverständnissen. Das wird besonders deutlich, wenn man beide Zuschreibungen – „Angststörung“ und „Inkongruenz“ – einmal probehalber auf dasselbe empirische Phänomen bezieht. Nimmt man dafür eine Person an, die regelmäßig große Ängstlichkeit verspürt, so kann man bei dieser Person den – theoriegestützten! – Anfangsverdacht einer „Angststörung“ äußern. Dann geht man davon aus, dass die Ängstlichkeit der Person als ein erlerntes Verhaltensmuster zu begreifen ist, das in bestimmten Situationen (die man dann zunächst noch genauer einzugrenzen versucht) auftaucht, und das dann – bspw. durch Unterstützung von PsychotherapeutInnen – auch wieder verlernbar ist. Man könnte allerdings bei derselben Person mit demselben Gefühl von Ängstlichkeit auch zunächst eine „Inkongruenz“ feststellen, und damit – anders theoriegestützt! – davon ausgehen, dass hier ein dauerhafter Widerspruch zwischen der Art und Weise, wie die Person empfindet und der Art und Weise, wie die Person gerne empfinden würde, vorliegt, was dann wiederum zu einem subjektiven Gefühl von Ängstlichkeit führt. Auch als „Inkongruenz“ könnte diese Ängstlichkeit wiederum angegangen werden mithilfe von therapeutischen Unterstützungsmethoden und einer dahinterstehenden Theorie. Jedoch eben in anderer Weise und auf Grundlage der – theoriebasierten! – Annahme eines letztlich anderen Leidens. Das hängt vor allem mit unterschiedlichen Vorstellungen davon zusammen, wie Personen „funktionieren“. Es gibt also sehr unterschiedliche Behandlungs-, aber auch Persönlichkeitstheorien innerhalb der Psychologie, von denen hier nur einmal zwei, nämlich eine kognitiv-behaviourale und eine humanistischpersonzentrierte, angerissen wurden.
Ebenso wie es mehrere in sich schlüssige theoretische Vorstellungen „psychischer Störungen“ gibt, gibt es mehrere in sich schlüssige theoretische Vorstellungen davon, was als „Praxis der Sozialen Arbeit“ zu verstehen ist. Diese Vorstellungen gehen zu großen Teilen auf solche Theorien zurück, in die wir in diesem Buch einführen, und die dezidiert versuchen zu beschreiben, was Soziale Arbeit im Kern ist.
Entsprechend lassen sich diese Theorien als „Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinn“ bezeichnen (Füssenhäuser/Thiersch 2015, 1743; Hammerschmidt et al. 2017, 11). Ab Kap. 3 des vorliegenden Bandes geben wir einen strukturierenden Einblick in die Vielfalt und die Gemeinsamkeiten dieser Theorien. Zunächst erscheint es uns jedoch vorrangig, noch auf eine weitere Unterscheidung hinzuweisen, die systematisch auf einer anderen Ebene liegt und die wir bis zu diesem Punkt bewusst außer