sich – wie wir schon gesehen haben – nicht nur dort, wo man versucht im strengsten Sinne „wissenschaftliche“ Aussagen zu treffen, sondern ständig und überall, wo man überhaupt Aussagen über etwas trifft. Damit wird Theorie auch nicht an jeder Stelle nach streng wissenschaftlichen Prinzipien genutzt (weshalb Theoriebildung andersherum auch nicht notwendigerweise etwas mit dem so oft belächelten „Elfenbeinturm“ der Wissenschaft zu tun hat).
Das besondere an wissenschaftlichen Theorien ist jedoch, dass sie für sich in Anspruch nehmen, in einem höheren Maß als nichtwissenschaftliche Theorien an bestimmten Gütekriterien orientiert zu sein. Zu diesen Gütekriterien gehören etwa Eigenschaften wie hohe argumentative Konsistenz und Transparenz, Erklärungskraft und logische Widerspruchsfreiheit bzw. -reflexivität. Erst, wenn Theorien sich diesen Kriterien unterwerfen, haben sie überhaupt eine Chance, sich als wissenschaftliche Theorien legitimieren zu können. Alltagstheorien dagegen sind vereinfacht gesprochen solche Theorien, die relativ unabhängig von einem Rückbezug auf diese Kriterien entworfen und auch wieder verworfen werden können – und genau genommen auch noch einmal vielfältig danach unterscheidbar sind, welche Prinzipien den Alltag derjenigen Person, welche die jeweilige Alltagstheorie entwirft, bestimmen (Weingart 2003). Denn im Horizont dieser Prinzipien – wie bspw. des Prinzips: einfache Handhabbarkeit – müssen nichtwissenschaftliche Theorien gut funktionieren. Sie rücken damit zugleich oftmals in die Nähe von Bewältigungstechniken.
Allgemein und in Abgrenzung zu wissenschaftlichen Theorien gesprochen lässt sich sagen, dass Alltagstheorien lebenspraktisch notwendig sind, aber sich dort auch ständig in ihrer Nützlichkeit bewähren müssen. Alltagstheorien helfen Menschen also dabei, sich einen Reim auf die eigenen Erlebnisse in der Welt zu machen, und dann auch noch in dieser Welt zu handeln.
Warum, so könnte man nun fragen, sollte man sich angesichts dieser hohen Funktionalität von Alltagstheorien dann überhaupt mit wissenschaftlichen Theorien der Sozialen Arbeit auseinandersetzen? Reicht es zum praktischen Handeln nicht eben doch aus, sich auf diejenigen „Praxiserfahrungen“ zu verlassen, welche man mithilfe der eigenen Alltagstheorien entwickelt hat, und diese Praxiserfahrungen dann vielleicht noch zusätzlich – da wo es geht – möglichst reflektiert mit Kolleginnen und Kollegen „aus der Praxis“ zu teilen?
Unsere Antwort auf diese Frage lautet, dass sich Fachkräfte der Sozialen Arbeit durchaus nicht ihr gesamtes, an das Studium anschließendes Berufsleben über intensiv mit wissenschaftlich hergestellten Theorien der Sozialen Arbeit beschäftigen müssen. Sie werden dies wahrscheinlich, zumal sie nicht selbst WissenschaftlerIn werden, auch aus Zeit- und Kraftmangel gar nicht leisten können. Die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien im Studium wird sich jedoch auch für diejenigen StudienabsolventInnen als außerordentlich nützlich erweisen, die im Anschluss an ihr Studium nicht den Weg in die Wissenschaft, sondern in andere Berufsfelder wählen. Und zwar, weil sie hierdurch erste Schritte in Richtung eines „reflektierten Umgangs mit der Praxis“ gehen können.
Genau hierin – in einem vergleichsweise höheren Maß an Reflexivität und argumentativer Sorgfalt – unterscheiden sich wissenschaftliche Theorien in der Regel von sog. Alltagstheorien. Das liegt vor allem an den unterschiedlichen Umständen ihrer jeweiligen Entstehung. Wie der Begriff andeutet, entstehen Alltagstheorien geradezu „nebenbei“ im Alltag, d.h. sie werden von situativ handelnden Menschen im Kontext dauernden Handlungsdrucks immer wieder entworfen, zur Entscheidungsgrundlage gemacht und z.T. auch schnell wieder verworfen. Dies ist situativ äußerst sinnvoll, um überhaupt handlungsfähig zu bleiben. Es zeigt sich jedoch auch, dass sich die meisten Alltagstheorien gerade aufgrund des Drucks, unter dem sie in der Regel entstehen, als wenig konkurrenzfähig mit wissenschaftlich orientierten Theorien erweisen, die geduldiger und umsichtiger entwickelt werden.
Wie wir noch zeigen werden (Kap. 5), ist zwar auch wissenschaftliche Theoriebildung Handlungsdruck ausgesetzt. Im Gegensatz zu Alltagstheorien bezieht sich dieser Handlungsdruck aber in der Regel nicht auf diejenigen Situationen, die durch die Theorie wissenschaftlich analysiert werden sollen. Das dient der sorgfältigeren Analyse ebendieser Situationen, wie u.a. Hans Thiersch in seinen Überlegungen zu einer alltags- und lebensweltorientierten Sozialen Arbeit für die Theoriebildung zur Sozialen Arbeit ausgeführt hat (Kap. 3.2).
Eine wesentliche Aufgabe des Studiums der Sozialen Arbeit als einer wissenschaftlich fundierten Ausbildung ist es also, über die Formulierung von Praxiserfahrungen mithilfe von Alltagstheorien hinauszugehen und damit den Blick dafür zu schulen, wie gerade Erzählungen über „Praxiserfahrungen“ in der Sozialen Arbeit theoretisch zustande kommen.
Die auf den ersten Blick vielleicht bequemer erscheinende Alternative zur Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien liegt darin, von anderen berichtete „Praxiserfahrungen“ entweder unhinterfragt für „objektiv“ zu halten und bedingungslos zu akzeptieren, oder – wo sie nicht zu den eigenen Alltagstheorien passen – ohne nähere Begründung abzulehnen und sich auf die eigenen „Praxiserfahrungen“ zu verlassen.
Langfristig würde eine solche Strategie jedoch einem Trugschluss gleichkommen. Denn mit diesem Vorgehen wäre es nicht möglich zu benennen, was zur Praxis dazu gehört, warum dies so ist und was darüber hinaus – spätestens hier zeigt sich die Wichtigkeit des Ganzen für die Soziale Arbeit als Beruf – eigentlich mit welcher Begründung „gute Praxis“ sein könnte. Fachkräfte, die hier nur spontan äußern können, dass sie das „irgendwie richtig“ finden und auch andere kennen, die das aus ihnen nicht weiter bekannten Gründen auch denken, werden – auch „in der Praxis“ – keine sonderlich gute Figur machen.
Auch bereits im Studium wäre eine solche Strategie nicht hilfreich. Mit ihr wäre es deutlich schwerer für Sie, zu erschließen:
● worin eigentlich der Sinn eines Hochschulstudiums gegenüber einer Berufsausbildung liegen sollte, wenn Sie doch eigentlich „nur“ praktisch arbeiten wollen,
● was von Ihnen in einer Hausarbeit erwartet wird,
● was eigentlich damit gemeint ist, wenn von Ihnen in einer mündlichen oder schriftlichen Prüfung im Studium „Eigenständigkeit“ in der Argumentation, aber trotzdem keine „reine Meinung“ erwartet wird und nicht zuletzt
● was eigentlich als relevantes Wissen für einen Abschluss in einem Studiengang der Sozialen Arbeit gelten könnte.
Die angedeuteten Unzulänglichkeiten von Alltagstheorien werden gerade dort relevant, wo es darum geht, mit einer gewissen Expertise über Praxis sprechen zu können und begründet in dieser zu handeln – also bei einer der zentralen Herausforderungen, vor denen angehende Fachkräfte der Sozialen Arbeit stehen. In ihrer Nützlichkeit hierfür stechen wissenschaftliche Theorien Alltagstheorien in aller Regel aus. Zur Verdeutlichung der Begrenztheit von Alltagstheorien in der Erschließung von Praxis Sozialer Arbeit wählen wir abschließend noch eine Alltagstheorie, die Laien auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen mag.
Die Alltagstheorie „Praxis Sozialer Arbeit ist überall dort, wo Sozialarbeiterinnen versuchen, Menschen zu helfen“, erscheint auf den ersten Blick sehr plausibel. Was aber, wenn Sie ein Team von drei Fachkräften in einem offenen Jugendclub haben, von denen nur eine Fachkraft ausgebildete Sozialarbeiterin ist, die anderen beiden sind Erzieherinnen? Betreiben die Erzieherinnen dann keine Praxis Sozialer Arbeit, sondern „Erziehung“? Oder machen diese dann notwendigerweise etwas anderes, ja gar weniger Anspruchsvolles? Was passiert, wenn ein Jugendlicher das heutige Gespräch mit einer der Fachkräfte gar nicht als hilfreich empfunden hat? Entsprach das Gespräch dann trotzdem Ihrem Verständnis von „Praxis Sozialer Arbeit“? Und was passiert, wenn die Sozialarbeiterin des Jugendclubs nach Dienstende nach Hause geht, um später am Abend zuhause mit ihrer Tochter ein einfühlsames Gespräch über deren derzeitige Ängste in der Schule zu führen? Betreibt sie dann dort immer noch praktische Soziale Arbeit, oder versucht sie einfach nur, ihrer Tochter als Mutter beizustehen? Oder würden Sie sagen: „Das kommt darauf an?“ Aber