Philipp Sandermann

Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit


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– durch eine Reflexion unserer Argumentation – darauf aufmerksam gemacht werden sollen, welcher Perspektive auf Theorien der Sozialen Arbeit sie sich anvertrauen, wenn sie dieses Buch lesen. Das scheint uns für das weitere Verständnis des vorliegenden Buches hilfreich zu sein, soll die LeserInnen aber zugleich auch offen dazu anregen, die in diesem Buch aufgemachte Perspektive auf Theorien der Sozialen Arbeit als nicht einfach selbstverständlich zu begreifen, sondern kritisch zu hinterfragen.

      Damit übertragen wir das, was wir bisher allgemein zum Wechselverhältnis von Theorien und ihren Gegenständen dargestellt haben, auf den Gegenstand des vorliegenden Buches – Theorien der Sozialen Arbeit. Und hier wird etwas deutlich, was auf den ersten Blick verwirrend, auf den zweiten aber nachvollziehbar ist. Es wird deutlich, dass man Theorie benötigt, um sich mit Theorien der Sozialen Arbeit beschäftigen zu können. Denn auf welche Weise man Theorien der Sozialen Arbeit rekonstruiert, entscheidet sich im Wechselspiel zwischen dem Material (hier also den Theorie-Texten, die in die Übersicht einbezogen werden) und der Art und Weise, wie man dieses Material in der Übersicht zugänglich macht.

      Im vorliegenden Buch stellt sich dieses Wechselspiel her, indem wir die oben angestellten Überlegungen auf unsere eigene Perspektive hin reflektieren. Damit schließen wir an das breite Programm einer sog. „reflexiven Sozialwissenschaft“ an, das inzwischen in den meisten Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften etabliert ist.

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      Reflexive Sozialwissenschaft kann als ein Label für im Einzelnen unterschiedlich vorgehende wissenschaftliche Ansätze gesehen werden (Langenohl 2009), deren Gemeinsamkeiten jedoch darin liegen, wie sie ihre eigene Wissenschaftlichkeit gegenüber ihrem Publikum legitimieren. Als bedeutende Wegbereiter reflexiver Sozialwissenschaft kann zum einen der französische Soziologe Pierre Bourdieu gesehen werden (Schultheis 2007), zum anderen sind hier auch WissenschaftsforscherInnen wie z. B. Steve Woolgar (1988) zu nennen. Das Wort „reflexiv“ verweist dabei auf ein zusätzlich gesteigertes Maß an Reflexion, was das Zustandekommen der eigenen Beobachtung und Argumentation als „wissenschaftlich“ angeht. Dies drückt sich z. B. dadurch aus, dass diese Ansätze oftmals Reflexionsschleifen einbauen zu dem, was gerade im Akt des wissenschaftlichen Beobachtens und Aufschreibens passiert, und wie damit einerseits der Blick derjenigen LeserInnen geleitet wird, welche die wissenschaftliche Studie am Ende rezipieren, und wie sich damit andererseits das verändert, was wissenschaftlich beobachtet wird. Anhand des letztgenannten Punktes wird deutlich, dass Ansätze reflexiver Sozialwissenschaft zu guten Teilen auf Erkenntnissen des Konstruktivismus aufbauen.

      Konstruktivistische Perspektiven rücken die „Gemachtheit“ von Beobachtungen in den Mittelpunkt. Das heißt, dass mit ihnen davon ausgegangen wird, dass Tatsachen nicht einfach da sind und dann besser oder schlechter, vollständiger oder weniger vollständig beobachtet werden können, sondern dass sich Tatsachen erst im Zuge ihrer Beobachtung konstituieren. Diese Annahme bezieht der Konstruktivismus ausdrücklich auch auf solche Beobachtungen, die als wissenschaftliche Beobachtungen gelten. Wie stark einzelne Ansätze reflexiver Sozialwissenschaft sich zugleich explizit als konstruktivistisch verstehen, variiert allerdings. Das hängt damit zusammen, dass einige dieser Ansätze nach wie vor von einem objektiven Kern derjenigen Dinge, die beobachtet werden, ausgehen, während andere Ansätze auch diesen Kern als gänzlich „durch Beobachtung hergestellt“ betrachten, und zwar zumindest im Sinne einer Mehrdimensionalität des „Kerns der Dinge“, welcher dann je nach Beobachtungsperspektive unterschiedlich aussieht. Die gesamte Auseinandersetzung um diese Fragen von „Existenz“ vs. „Gemachtheit“ von wissenschaftlich beobachteten Sachverhalten bezeichnet die Philosophie als „Universalienstreit“.

      Darüber hinaus gehen wir in diesem Buch von folgenden, schon in Kap. 1.1 und Kap. 1.2 skizzierten Vorannahmen aus, um eine Überblicksperspektive auf Theorien der Sozialen Arbeit erarbeiten zu können:

      1. Nicht jede Theorie, der man im Studium der Sozialen Arbeit begegnet, ist eine Theorie der Sozialen Arbeit. Theorien der Sozialen Arbeit zielen im Gegensatz zu anderen Theorien wesentlich auf die Darstellung von etwas Allgemeinverbindlichem der Sozialen Arbeit.

      2. In ihren jeweiligen Antworten auf die Frage, was Soziale Arbeit ist, kommen unterschiedliche Theorien der Sozialen Arbeit zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Das gilt auch für die Vorstellung von Praxis der Sozialen Arbeit, denn Theorie- und Praxisvorstellungen zur Sozialen Arbeit stellen sich in einer Theorie der Sozialen Arbeit wechselseitig her. Das heißt, jede Theorie entwickelt zugleich ihre jeweils eigene Vorstellung von Praxis der Sozialen Arbeit.

      3. Eine Übersicht zu Theorien der Sozialen Arbeit, die sich an den Ergebnissen der einzelnen Theorien orientiert, bleibt darauf begrenzt, die Unterschiedlichkeit dieser Ergebnisse zusammenfassend zu reproduzieren. Damit kann eine solche Übersicht Informationsverdichtung, aber noch keine systematische Wissensproduktion leisten.

      4. Eine zusätzliche Möglichkeit der im engeren Sinn vergleichenden Wissensproduktion besteht, wenn man die Arten und Weisen genauer in den Blick nimmt, wie unterschiedliche Theorien der Sozialen Arbeit zu Antworten auf die Frage danach gelangen, was Soziale Arbeit ist. Ein solcher Ansatz erlaubt es, allen Theorien der Sozialen Arbeit dieselben Fragen zu stellen und damit hinreichend fokussiert Wissen zu Theorien der Sozialen Arbeit aufzubereiten.

      Aus den oben benannten Punkten ergibt sich bereits eine Argumentationslinie für den weiteren Aufbau dieses Buches. Man kann daran auch noch einmal erkennen, inwiefern wir im Folgenden nicht „völlig objektiv“ vorgehen. Zugleich ist unser Vorgehen aber eben auch nicht „völlig willkürlich“ oder zufällig. Stattdessen ist es theoriegeleitet – bzw. genauer: reflexiv-theoriegeleitet – und damit zugleich notwendigerweise von Vorannahmen, man könnte sogar sagen: von „Vor-Urteilen“ geprägt (Gadamer 1990). Diese Vor-Urteile ermöglichen es, eine Perspektive zu entwerfen, die im Ergebnis der Einführung zu Wissen über Theorien der Sozialen Arbeit führt, also ein systematischeres Verständnis von Theorien der Sozialen Arbeit ermöglicht.

      Kommen wir damit zu den konkret folgenden Argumentationsschritten dieses Einführungsbandes. Den ersten oben aufgelisteten Punkt („Nicht jede Theorie, der man im Studium der Sozialen Arbeit begegnet, ist eine Theorie der Sozialen Arbeit“) haben wir bereits mehrfach verdeutlicht, indem wir im Einklang mit Füssenhäuser und Thiersch (2015) sowie Hammerschmidt et al. (2017) das Erkenntnisinteresse von „Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinn“ vom Erkenntnisinteresse anderer Theorien, denen man im Studium der Sozialen Arbeit begegnet, unterschieden haben. Wir wollen diese Unterscheidung jedoch nicht allein qua Definition treffen, sondern glauben, dass es gute Gründe gibt, mit denen man sie auch historisch rechtfertigen kann. In Kap. 2 wollen wir genau das tun, indem wir die Vorgeschichte der Auseinandersetzung um Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinn skizzieren.

      Danach wird es darum gehen, ebendiese Theorien der Sozialen Arbeit anhand der weiteren, oben aufgelisteten Punkte besser verständlich zu machen. So werden wir einen Überblick zu Theorien der Sozialen Arbeit erstellen, der die verschiedenen Theorien anhand ausgewählter Fragen auf deren Unterschiede, aber auch auf deren Gemeinsamkeiten als Theorien der Sozialen Arbeit begreifbar macht.

      Unser geplantes Vorgehen drückt sich bereits in der Grundstruktur des weiteren Buches aus: In Kap. 3 findet sich ein Panorama verschiedener, regelmäßig als relevant markierter Theorien der Sozialen Arbeit. Durch die Gegenüberstellung dieser Theorien anhand von drei ausgesuchten Fragen, die wir jeder der präsentierten Theorien stellen, können zunächst einige Diversitäten vorhandener Theorien der Sozialen Arbeit verdeutlicht werden. Gleichzeitig erlaubt uns die Konzentration auf diese drei immer gleichen Fragen, die Theorien insbesondere auf die oben angesprochene Frage danach, wie sie Soziale Arbeit theoretisieren, zu vergleichen. In Kap. 4 werden wir das in einer systematischeren Art und Weise tun, um zunächst relevante Unterschiede verschiedener Theorien der Sozialen Arbeit zusammenzufassen, was die durch sie in den Mittelpunkt