Philipp Sandermann

Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit


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als Theorien der Sozialen Arbeit bezeichnet werden, maßgeblich interessiert?

      3. Inwiefern lassen sich Theorien der Sozialen Arbeit auch als Großtheorien bezeichnen?

      4. Wo liegen Nutzen und Grenzen von Theorien der Sozialen Arbeit, wenn es darum geht, Antworten auf eine konkrete praktische Handlungsfrage zu finden?

      Das folgende Teilkapitel dient dazu, unsere bisherigen Überlegungen zum Wert einer Beschäftigung mit Theorie innerhalb des Studiums der Sozialen Arbeit zusammenzufassen. Dabei werden wir verdeutlichen, welche Besonderheiten von Theorien der Sozialen Arbeit in einer ersten Annäherung erkennbar sind, und darauf aufbauend herausarbeiten, welchen theoretischen Blick das vorliegende Buch auf Theorien der Sozialen Arbeit richtet. Auch dies erachten wir als notwendig, um unsere Argumentation transparent, und damit zugleich verständlich zu machen, warum die folgenden Kapitel dieses Buches so aufgebaut sind, wie sie aufgebaut sind.

      Wir haben im Kap. 1.1 dargestellt, dass Theorie und Praxis zwar als logische Gegensätze begriffen werden können, es aber gerade deshalb durchaus einen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis gibt. Denn Theorie braucht, um überhaupt als Theorie auftreten zu können, immer auch ein Gegenüber, auf das sie beziehbar ist. Während das in vielen anderen Wissenschaften Momente sind, welche als „Empirie“ bezeichnet werden, dienen im Bereich der Sozialen Arbeit oft Momente der „Praxis“ als ein solcher Gegenpol. Für Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinne gilt das in besonderem Maße.

      Das gilt logischerweise auch umgekehrt, also auch für die Rede von der Praxis. Denn – so haben wir ebenfalls in Kap 1.1 herausgearbeitet – ohne Theorie wäre es keiner/m PraktikerIn möglich, sich überhaupt selbst als SozialarbeiterIn oder SozialpädagogIn zu bezeichnen, oder auch nur einfach von einer „Praxiserfahrung in der Sozialen Arbeit“ berichten zu können. An jeder Stelle, an der man das tut, braucht man sowohl eine theoretische Vorstellung von „Praxis“, als auch noch eine – bewusste oder unbewusste – „Theorie der Sozialen Arbeit“, die ein generelles Bild davon liefert, was Soziale Arbeit ist. Denn erst so kann man die konkret gemachte Erfahrung überhaupt als „Soziale Arbeit“ fassen.

      Dieser Theoretisierungsprozess ist (wir erinnern noch einmal an die Erkenntnisse des in Kap. 1.1 zitierten Philosophen Charles S. Peirce) notwendig für jedwede Art der Thematisierung einer bestimmten Beobachtung. Theoretisierungsprozesse geschehen also ständig und überall, und zwar gerade auch da, wo von „Praxis“ die Rede ist. Am ausführlichsten, geduldigsten und damit in der Regel auch am gründlichsten werden solche Theoretisierungsprozesse jedoch in wissenschaftlichen Theorien vollzogen.

      Es lohnt sich daher aus unserer Sicht gerade auch für praktisch interessierte Studierende und engagierte PraktikerInnen, sich mit wissenschaftlichen Theorien auseinanderzusetzen. Für Theorien der Sozialen Arbeit gilt das in besonderem Maße, da mit ihnen explizit darauf gezielt wird, ein Bild von der Praxis der Sozialen Arbeit zu entwerfen.

      Wie wir in Kap. 1.2 deutlich gemacht haben, sollte man daraus jedoch keine Hoffnung ableiten, mithilfe von Theorien der Sozialen Arbeit auf konkrete Handlungsrezepte für einzelne Situationen zu stoßen. Denn diejenigen Theorien, die in der Regel als Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinne verhandelt werden und somit auch im Rahmen unseres Buches Berücksichtigung finden (Kap. 3), werden zwar durchaus auf konkrete Phänomene hin ausgerichtet, die als „Praxis Sozialer Arbeit“ beschrieben werden. Dies geschieht jedoch nicht, um mithilfe der Theorien dann selbst Lösungen für die beschriebenen Situationen anzubieten, sondern um aus der Beobachtung konkreter Momente Sozialer Arbeit allgemeine Schlussfolgerungen für „den Zusammenhang des Ganzen, seiner Beschreibung, Begründung und Aufklärung“ ziehen zu können (Füssenhäuser/Thiersch 2015, 1743). Das gilt selbst für diejenigen Theorien, deren Interessensfokus auf ein im Großen und Ganzen „richtiges“ Handeln in der Sozialen Arbeit gelegt wird: Auch hier geschieht das in der Regel in Form von Aussagen zu „fachlichem“ oder „professionellem“ Handeln.Auch diese Art von Theorien der Sozialen Arbeit trifft damit nicht systematisch Aussagen zu konkret richtigem Handeln in allen möglichen Situationen, die einem „in der Praxis“ begegnen können. Eher finden sich hier etwa Umschreibungen von grundsätzlichen Haltungen, die dann an seltenen Stellen auch einmal beispielhaft illustriert werden.

      Damit liefern Theorien der Sozialen Arbeit bewusst allgemein gehaltene Analysen der Sozialen Arbeit. Will man sie nutzen für konkrete Situationsanalysen in der eigenen Praxis, muss man sie gewissermaßen in Gebrauch nehmen, und dabei konkrete Ableitungen für die eigene Praxisreflexion mehr oder minder selbst vornehmen. Eine solche Eigentätigkeit beim Gebrauch von Theorien bietet dann zugleich die Möglichkeit, sich die Frage zu stellen, ob man die Annahmen der Theorie auf der allgemeinen Ebene überhaupt teilt und als nachvollziehbar empfindet.

      Die Annahmen unterschiedlicher Theorien der Sozialen Arbeit zu ihrem Gegenstand ähneln sich teilweise. Sie unterscheiden sich jedoch teilweise auch deutlich voneinander. Denn – um dies noch einmal ins Gedächtnis zu rufen – Theorien der Sozialen Arbeit stehen zu ihrem zentralen Gegenstand, der Sozialen Arbeit, im Grunde in einem ähnlichen Verhältnis wie Studierende der Sozialen Arbeit.

      Auf den ersten Blick liegt das Erkenntnisinteresse aller Theorien der Sozialen Arbeit, ähnlich wie bei Studierenden der Sozialen Arbeit, auf ein und demselben – nämlich Sozialer Arbeit. Erst ein differenzierterer Blick lässt deutlich werden, dass dieses Interesse jenseits des gemeinsam genutzten Begriffs auf etwas sehr Unterschiedliches zielen kann. Für einen Nachvollzug von Studierendeninteressen im Studium ist es somit nicht allein entscheidend, dass alle Studierenden denselben Begriff der Sozialen Arbeit benutzen, wenn sie ihr übergreifendes Interesse betiteln. Es kommt vielmehr darauf an nachzuvollziehen, welche konkreten Vorstellungen sich bei unterschiedlichen Studierenden jeweils mit der Nutzung des Begriffs „Soziale Arbeit“ verbinden, und wofür der Begriff somit in ihren Augen jeweils steht. Ähnliches gilt, wenn man ein genaueres Verständnis von Theorien der Sozialen Arbeit erlangen möchte. Auch hier kommt es zunächst auf eine Rekonstruktion des jeweiligen Verständnisses von Sozialer Arbeit an, welches sich in einzelnen Theorien der Sozialen Arbeit findet. Dass sie dabei alle denselben Begriff der Sozialen Arbeit nutzen, ist erst im zweiten Schritt entscheidend, nämlich dann, wenn man vergleichen möchte, wo sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Theorien erkennen lassen, um hierüber das Gesamtbild der Diskussion um Theorien der Sozialen Arbeit besser zu verstehen.

      Ein solches Vorgehen ist unseres Erachtens gewinnbringend, da sich Theorien der Sozialen Arbeit noch in einem weiteren Punkt nicht sonderlich von Studierenden der Sozialen Arbeit unterscheiden: So wie jede/r Studierende von Beginn des Studiums an bestimmte Vorannahmen, Ideale, besondere Aufmerksamkeiten und Sozialisationserfahrungen mitbringt und kein „unbeschriebenes Blatt“ ist, was die eigenen Wahrnehmungen angeht, startet auch keine Theorie in ihren Annahmen über Soziale Arbeit bei null. Auch hier wird auf je besonderen Vorannahmen und Idealen aufgebaut, es werden jeweils besondere Aufmerksamkeitsschwerpunkte gesetzt und damit spezifische Perspektiven auf Soziale Arbeit entwickelt.

      Theorien der Sozialen Arbeit sind so gesehen alle ähnlich, aber eben auch alle sehr verschieden. Welche Ähnlichkeiten und welche Unterschiede einem in ihrer Beobachtung auffallen, liegt vor allem auch daran, auf welche Weise man sich ein Bild von ihnen macht. Und d.h. genauer: Es kommt darauf an, welche Theorie man in Gebrauch nimmt oder entwirft, um sich ein Bild von Theorien der Sozialen Arbeit zu machen. Damit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir in eine kurze Gedankenschleife zum theoretischen Blick, den das vorliegende Buch entwirft, einsteigen wollen.

      Wir möchten m.a.W. die Gelegenheit nutzen, unseren eigenen Blick auf Theorien der Sozialen Arbeit noch einmal etwas systematischer auszuweisen. Die