die Klärung des Status der Sozialen Arbeit, ihres Gegenstandsund Aufgabenbereichs und ihrer gesellschaftlichen Funktion, ihrer geschichtlichen Selbstvergewisserung und ihrer Positionierung im Kontext anderer Disziplinen und der Anforderungen der Praxis“ (Füssenhäuser/Thiersch 2015, 1743).
Es wird deutlich: Der Abstraktionsgrad, mit dem Theorien der Sozialen Arbeit ansetzen, ist ziemlich hoch. Zu klären sind hier offenbar eher Fragen von recht allgemeinem Interesse, wo es um ein angemessenes Verständnis von Sozialer Arbeit geht. Somit wäre es zugleich ein Missverständnis davon auszugehen, man könnte in Theorien der Sozialen Arbeit Anweisungen finden, die sich in ganz konkreten, und damit hoch besonderen Situationen der Praxis wie Rezepte anwenden ließen. Auch wäre es ein Missverständnis, wenn man davon ausginge, dass Theorien der Sozialen Arbeit die konkrete, besondere Praxis in allen ihren Facetten und spezifisch lokalen Bedingungen überhaupt ganz exakt widerspiegeln, oder gar vorhersagen könnten. Stattdessen geht es in Theorien der Sozialen Arbeit eben genau darum, das Allgemeingültige (und nicht das Besondere) an „der Sozialen Arbeit“ begreifbar zu machen. Es geht ihnen – anders gesagt – darum, die Komplexität und Vielfältigkeit möglicher Beobachtungen zu Sozialer Arbeit weitestgehend zu reduzieren. Im Ergebnis zielen die Theorien damit auf weniger genaue, dafür aber breiter verallgemeinerbare Aussagen zur Sozialen Arbeit. Damit entfernen sie sich zugleich systematisch von möglichst exakten Technologien für Einzelfallprobleme, und interessieren sich stattdessen für „Soziale Arbeit als Ganzes“ (Borrmann 2016). In Anlehnung an den von C. Wright Mills (1959) geprägten Begriff der „Grand Theories“ haben wir Theorien der Sozialen Arbeit daher an anderer Stelle auch schon als „Großtheorien“ bezeichnet (Sandermann/Neumann i.E.; kritisch auch schon Winkler 2005, 19).
Es liegt somit keineswegs an schlichtem Unvermögen, wenn Theorien der Sozialen Arbeit keine Technologien liefern. Zum einen lässt sich mit guten Gründen behaupten, dass Theorien insgesamt und jenseits der in diesem Buch besprochenen Theorien wenig taugen für die Ableitungen von Technologien und Rezepten (Knorr-Cetina 2007). Viel entscheidender ist für die vorliegende Einführung jedoch, im Auge zu behalten, dass Theorien der Sozialen Arbeit solche Technologien eben gar nicht bieten wollen. Das heißt auch, dass jede Theorie, die im Rahmen des vorliegenden Buches dargestellt wird, am Ende vor allem möglichst verallgemeinerbare Aussagen zur Sozialen Arbeit bietet, und sich aus diesem Grund als Material für eine Suche nach möglichst exakten Rezepten für konkrete Einzelsituationen denkbar schlecht eignet.
Wir wollen das noch einmal auf unser anfängliches Beispiel aus der Schulstation übertragen. Sucht man in einer Theorie der Sozialen Arbeit nach Rezepten oder eindeutigen Hinweisen dazu, wie die Schulsozialarbeiterin X mit dem Schulverweigerer Y in der Schulstation Z verfahren soll, findet man hier höchstwahrscheinlich: Nichts. Stattdessen ist es schon wahrscheinlicher, dass man hier auf Antworten zur Frage stößt, ob Schulstationen eigentlich als Teil der Sozialen Arbeit zu verstehen sind, und falls ja oder nein, inwiefern und warum das so gesehen werden kann. Was die konkrete Rolle von Schulsozialarbeiterinnen im Umgang mit schuldevianten jungen Menschen angeht, könnte es indessen schon wieder schwieriger werden. Denn es ist wahrscheinlich, dass die Theorie der Sozialen Arbeit, in die man hineinliest, nur an äußerst wenigen oder sogar gar keinen Stellen Beispiele aus dem Bereich der Schulsozialarbeit nutzt, weil Schulsozialarbeit im Lichte dieser Theorie eben nur ein Teilgebiet dessen ist, wozu allgemeine Aussagen getroffen werden: Soziale Arbeit.
Heißt das nun aber im Umkehrschluss nicht doch, dass Theorien der Sozialen Arbeit letztlich völlig wertlos sind für jemanden, der sich für praktisches Handeln in der Sozialen Arbeit interessiert? Handlungssituationen kommen doch immer als konkrete und damit per se als einzelfallbezogene, und nicht als allgemeine Probleme daher. Was bringen dann Theorien, die sich scheinbar nicht für konkrete Lösungen, sondern nur für Allgemeines interessieren?
Diese Fragen sind durchaus berechtigt, und interessanterweise werden sie auch von WissenschaftlerInnen immer wieder gestellt. Das Gegenmodell, das gegen solche „Großtheorien“ ins Spiel gebracht wird, sind sog. „Middle Range Theories“, welche in ihrem Begriff auf den amerikanischen Soziologen Robert K. Merton (1968) zurückgehen.
Unter Middle Range Theories, im Deutschen meistens benannt als Theorien mittlerer Reichweite, versteht man Theorien, die bewusst ein nur mittleres Maß an Abstraktion anstreben und somit relativ nah an einer Beschreibung von empirischen Beobachtungen bleiben. Die Vorteile dieser Theorien mittlerer Reichweite bilden zugleich ihre Nachteile. Durch ihr höheres Maß an Konkretheit taugen sie einerseits für eine detailliertere Abbildung der beobachteten Zustände sowie für weitergehende Ableitungen von Prognosen und Technologien für den erforschten Bereich. Andererseits macht sie das weniger übertragbar auf andere als die konkret von ihnen erklärten Zustände.
Wir werden uns mit diesem Gegenmodell der Middle Range Theories und der Frage, ob Großtheorien für die Produktion von Wissen zur Sozialen Arbeit nicht letztlich überflüssig sind, im letzten Kapitel dieses Buches noch ausführlicher beschäftigen (Kap. 6). Um so viel bereits vorwegzunehmen: Großtheorien der Sozialen Arbeit sind wichtig, und zwar sowohl für die wissenschaftliche Forschung als auch für das Handeln von Studierenden und PraktikerInnen der Sozialen Arbeit. Es kommt aber darauf an, bei der Lektüre und Diskussion von Großtheorien das Richtige von ihnen zu erwarten.
Hierfür ist eine Differenzierung nötig. Zutreffend ist: Theorien der Sozialen Arbeit dienen als solche nicht dazu, direkte Lösungen für konkrete Handlungsprobleme in der Praxis anzubieten. Eben deshalb sind sie keine Technologien oder gar Rezepte. Das heißt jedoch im Umkehrschluss nicht, dass sie für eine Aufklärung konkreter Handlungsprobleme und Lösungen der Praxis nicht taugen würden. Mit Theorien der Sozialen Arbeit kann man sich durchaus für diese konkreten Momente interessieren. Allerdings nicht, um dann konkrete Lösungen aus der Theorie einfach abzuleiten, sondern um aus der Beobachtung konkreter Momente Sozialer Arbeit allgemeine Schlussfolgerungen ziehen zu können. Wie wir noch zeigen werden, wenn wir im Folgenden einige der einschlägigsten Theorien der Sozialen Arbeit genauer unter die Lupe nehmen werden (Kap. 3), sehen diese Schlussfolgerungen durchaus unterschiedlich aus. Entscheidend für den Moment aber ist: In allen Theorien der Sozialen Arbeit werden Schlussfolgerungen zum Allgemeingültigen gezogen, und damit letztlich zum aus Sicht der Theorie Entscheidenden der Sozialen Arbeit. Damit Theorien der Sozialen Arbeit dies leisten können, muss dort, wo in ihnen überhaupt direkte Hinweise auf so etwas wie „richtiges Handeln in der Sozialen Arbeit“ auftauchen, notwendigerweise auf einer allgemeinen Ebene argumentiert werden.
Aus der Perspektive von PraktikerInnen, die an einem besonderen Problem und dessen Lösung interessiert sind, könnte der zentrale Wert von Theorien der Sozialen Arbeit somit darin liegen, mithilfe dieser Theorien danach fragen zu können, was das Entscheidende an einer praktischen Situation ist. Mit anderen Worten hilft ihnen die Kenntnis einer – bzw. am besten: mehrerer! – Theorie(n) der Sozialen Arbeit dabei herauszufinden, was an der vorliegenden Situation diese eigentlich als eine Situation der Sozialen Arbeit ausweist. Hieraus wiederum lassen sich durchaus ganz konkrete Ableitungen für das dann in der jeweiligen Situation benötigte Wissen treffen. So z.B. Wissen darüber, welche Handlungen, welches Rollenverständnis und welche Organisationsprozesse angemessen wären, wenn man erstens die Situation im Sinne der jeweiligen Theorie verstehen möchte und sich zweitens infolge dessen auch dazu entscheidet, im Sinne der jeweiligen Theorie zu handeln. Ob man das jedoch (beides) möchte, und wie sich im Falle dessen die allgemein in der Theorie formulierten Kriterien „wahrer Sozialer Arbeit“ auf die im Einzelfall wahrgenommene „Praxissituation“ übertragen lassen, kann keiner allgemeinen Theorie der Sozialen Arbeit anheimgestellt werden, sondern bleibt logischerweise eine Aufgabe der konkreten Praxis.
1. Inwieweit unterscheiden sich ethische und/oder fachpolitische Leitlinien für das Handeln von PraktikerInnen innerhalb von Theorien der Sozialen Arbeit