Karl-Heinz Menzen

Grundlagen der Kunsttherapie


Скачать книгу

Psychiatrischen Klinik Salpêtrière und deren Chef Philippe Pinel (1745–1826), noch Atelier-Werkstattarbeit (hier speziell: die Malerei) benutzt wird, um in der Beschäftigung mit den sog. schönen Künsten die Leidenschaften durch moralische Maximen zu überwinden (Pinel 1801), da wird in der Folge unter den deutschen und englischen Kollegen eher ein handwerklicher Aspekt von Beschäftigungstherapie hervorgekehrt. Die künstlerischen Tätigkeiten, in den deutschsprachigen und anglosächsischen Regionen im Rahmen der Beschäftigungstherapie benutzt, werden eher werkhaft-gestaltend verstanden (Hils 1971, X).

      Beschäftigungs- und Arbeitstherapie lassen sich folgendermaßen voneinander abgrenzen: Die Beschäftigungstherapie (BT) will seit ihrem Beginn gegen die geistige Verwirrung und den körperlichen Verfall geistig und motorisch anregen, aber auch erholsam und unterhaltend, zunehmend werkhaft-gestaltend verstanden sein. Arbeitstherapie (AT) will gegen die abstumpfende Bettlägerigkeit die Klinikinsassen aktivieren, anfordernd, leistungsfördernd, produktionsorientiert sein. Die Tradition des AT-Begriffes sucht vergeblich und immer wieder den Begriff der Arbeits- durch den der Werk- oder Beschäftigungstherapie zu ersetzen. Schließlich setzt sich nach langer Diskussion der Begriff Ergotherapie (griech.: to ergon = Werk, Tat, Unternehmung, Kunstwerk) durch, immer noch neben sich einen arbeitstherapeutischen, speziell produktions- und leistungsanpassenden Zweig konzipierend. Die begrifflich erst spät genannte Kunsttherapie (KT) will allenfalls den Teil der erwähnten Verfahren abdecken, der über das Kunsthandwerkliche hinaus die spielerischen, kreativen, frei gestaltenden Handlungselemente betont (Otto 1971; Aernout 1981; Domma 1990). Seit Anfang des 20. Jahrhunderts erobern sich die künstlerisch-bildnerischen Verfahren in den gesundheits- und heilungsorientierten Möglichkeiten von Beschäftigung, Arbeit und Spiel einen Platz, dem zunehmend kognitiv-, psycho- und verhaltensmodifikatorische Eignung zugeschrieben wird.

      In den entstehenden künstlerischen Werkstätten im psychiatrischen Bereich entwickelt sich vor dem Ersten Weltkrieg eine Form der Beschäftigungstherapie, die die künstlerische Tätigkeit zum „Cur-Mittel“ erklärt. In dem Maße, wie sich im Laufe des 20. Jahrhunderts Arbeits- und Beschäftigungstherapien voneinander trennen (1905 entwirft in der Anstalt Warstein, der späteren Gütersloher Anstalt, der Psychiater Hermann Simon, 1867–1947, zum ersten Mal ein solches Konzept, das Garten- und Aufräumarbeiten als aktive Arbeits-Therapie versteht; vgl. Bauer 1992, 186, Stichw. Arbeitstherapie), kommen nunmehr in Absetzung von den beschäftigungstherapeutischen den künstlerischen Tätigkeiten spezifische Aufgaben zu: Sie erhalten eine eher schöpferisch-musische, individualitätsangemessene und selbstzweckorientierte Aufgabenstellung im Rahmen der Behandlung. Die arbeitstherapeutischen Maßnahmen sind dagegen produktions-, leistungs- und zweckorientiert, und auch die beschäftigungstherapeutischen Maß-nahmen können ihrer Zweckorientierung nicht entbehren. Eine künstlerische oder kunsthandwerkliche Betätigung – bei Pinel (1801) und Reil (1803) für die Patienten der gehobenen Schichten gedacht und auf deren Zerstreuung aus (Günter 1989) – wird zunehmend von einer handwerklich-arbeitsprozessorientierten Betätigung geschieden, die eher der Wiedereingliederung von Patienten der unteren Schichten dient.

      Die Trennung von Arbeits- und Beschäftigungstherapie und mit ihr die Spezifizierung der Kunsttherapie führt im Verlauf des 20. Jahrhunderts in den rehabilitativen und klinischen Einrichtungen zu folgenden institutionalisierten Varianten: Als Arbeitstherapie (AT; Ergotherapie, Industrial Therapy, ergothérapie, thérapeutique par le travail) sollen die kunsthandwerklichen Formen zweckgebunden und produktionsorientiert, zumindest arbeits- und sozial-integrativ sein. Als Beschäftigungstherapie (BT; Occupational Therapy; thérapeutiques occupationelles) ist die kunsthandwerkliche Tätigkeit eher selbstzweckorientiert im Sinne der individuellen Kur.

      In der Folge spezifizieren sich AT und BT nach Rehabilitationsinteressen: BT ist zunehmend orthopädischen, unfallchirurgischen, neurologisch-rekonstruktiven, rheumatologischen und geriatrischen Maß-nahmen zugewandt, während die AT und mit ihr m. E. die Heilpädagogik auf die teilweise Rehabilitation, die Wiederherstellung des Arbeits- und Leistungsvermögens orientiert ist. Gestaltungstherapien besetzen zunehmend jenen Raum der Kur-, Rehabilitations- und Behandlungsmaßnahmen, der von den unmittelbaren Zwängen der arbeits- und zweckorientierten Tätigkeiten frei bleibt. Gleichermaßen finden künstlerische Therapieformen im Rahmen der Arbeits- und Beschäftigungstherapien ihren Platz: In eher pädagogischer Hinsicht sind sie auf die Ausweitung von ästhetischen und mit diesen korrelierenden sozialpraktischen Kompetenzen aus. In eher therapeutischer Hinsicht suchen sie das psychische Verarbeitungsrepertoire auszuweiten, d. h. den Betroffenen wieder verfügbar zu machen. Auf diese Weise haben die Behandlungsformen mit bildnerischen Mitteln die Aufsplittung in Ergo- bzw. Arbeits- und Beschäftigungstherapien innerhalb ihres Faches nachvollzogen: Sie implizieren sowohl material- und arbeitsam-zweckgebundene wie gestaltungs- und eher psychisch-orientierte Zielsetzungen.

      Die Entwicklung der heilpädagogischen Kunsttherapie verläuft in drei großen Schüben: 1860 wurde sie von den Heilpädagogen Deinhardt und dem Ehepaar Georgens in Bezug auf Sinnes- und Teilleistungsstörungen formuliert. Um 1920 orientierte sie sich an den aufkommenden ganzheits- und gestaltpsychologischen Ansätzen, und ist um 1990 schließlich neurologisch ausgerichtet (Menzen 1994; Bader / Baukus / Mayer-Brennenstuhl 1999). Erst gegen Ende der 1990er Jahre wird sie zu einem Fach, das im Rahmen einer inzwischen wissenschaftlichgeregelten Heilpädagogik angeboten wird (Menzen 2007).

      Die ansatzweise wahrnehmbare heilpädagogische Kunsttherapie richtet sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts an der Fröbelschen Kindergartenpädagogik aus. Wir werden noch sehen, wie mit Hilfe von Kugeln, Scheiben, Quadern und Säulen als Lehrmaterialien Heranwachsende wie Erwachsene die Welt begreifen lernen sollen. Ein halbes Jahrhundert später und bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg ist die heilpädagogisch-bildnerische Förderarbeit der Gestaltwahrnehmung verpflichtet. Nicht weg von den sinnesbezogenen, aber hin zu einer sog. ganzheitlichen Förderung zielt ihr Umgang mit den behinderten Menschen. Das Mythologem des Ganzheitlichen ist bis in die späten 1990er Jahre in aller Munde. Gegenwärtig befasst sich die heilpädagogische Kunsttherapie mit neurologischen Aspekten spezifischer Störungsbilder wie Hyperaktivität, Störungen der Sinne, der Motorik und des Sozialverhaltens. Nicht von ungefähr erhält die Bezugswissenschaft der Heilpädagogik, bislang eher ein Konglomerat aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, ein spezifisch wissenschaftliches Profil. Sie erarbeitet 1998 ein Curriculum, das bundesweit verbindlich wird; sie organisiert sich als Fachbereichstag bei der bundesdeutschen Kultusminister- und Rektorenkonferenz. Die heilpädagogische Kunsttherapie entwickelt sich in diesem Zeitraum und Zusammenhang zur eigenständigen Methode.

      In der Geschichte der heilpädagogischen Kunsttherapie stehen die Fehlverknüpfungen und Wahrnehmungsstörungen des teilleistungsgestörten Menschen im Mittelpunkt. An ihnen hat sich die Herangehensweise mit ästhetisch-bildnerischen Mitteln als buchstäblich „vorbildlich“ erwiesen. In diesen Fällen ist die ästhetisch-bildnerisch orientierte Wiederaneignungsarbeit von Raum-, Zeit- und Handlungsstrukturen heilbringend.

      Entsprechend der usprünglichen psychomotorischen Verschaltungen beim Kind erarbeitet Kunsttherapie beim wahrnehmungs-, teilleistungsgestörten, d. h. lern-, aber auch beim geistigbehinderten Menschen das früheste Sinneserfahrungsterrain: Sie rekonstruiert und kompensiert die mit diesen Reizumständen verknüpften Situationen der frühen Kindheit (Deinhardt / Georgens 1979 / 1861; Theunissen 1989, 2004; A. Lichtenberg 1990; Menzen 1994).

      Das Umfeld der Wahrnehmung des teilleistungsgestörten, des lernwie auch des geistig behinderten Menschen soll erweitert werden (A. Lichtenberg 1987). Die grundlegenden Wahrnehmungsaktivitäten dieses Menschen sollen basal stimuliert werden, beispielsweise im taktilen Bereich in Erfahrungsmodalitäten wie warm / kalt, fest / weich, nass / trocken (A. Lichtenberg 1990).