einer mangelhaften Einschätzung des Nacheinander von Zeichen, Ausdrücken und Verhaltensweisen. (Zu den Ergebnissen kunsttherapeutischen Handelns mit lern- und geistig behinderten Menschen liegen Praxisdokumentationen vor: Theunissen 1989; A. Lichtenberg 1990; Menzen 1990a, b; ders. 1994). In der Praxis der Neurologischen Klinik sind die sinnesstimulierenden Erfahrungen der heilpädagogischen Kunsttherapie in einem modifizierten Realitäts-Orientierungs-Training (ROT) mit Schlag -anfall-, Unfall- oder Alzheimer-Patienten äußerst wertvoll und in manchen Abteilungen nicht mehr wegdenkbar (Menzen / Brandenburg 1999).
1.5 Der kreativ- und gestaltungstherapeutische Ansatz
Ein kreativ- und gestaltungstherapeutischer Ansatz hat sich im Laufe unseres Jahrhunderts entwickelt. Er hat eine ähnliche zweckfreie bzw. zweckgebundene Orientierung erfahren, wie wir dies im Falle der Arbeits- und Beschäftigungstherapie gesehen haben. Tardieu (1872), Lombroso und du Camp (1880), Morcelli (1881), Simon (1888), Kiernan (1892), Hospital (1893), Mohr (1906), Réja (1907), Morgenthaler (1918; 1919; 1921), Prinzhorn (1919; 1922; 1927), Bürger-Prinz (1932), Dubuffet (1949), Binswanger (1955), zusammenfassend Bader (1975), Navratil (1965; 1969; 1979; 1983), Benedetti (1984) und Gorsen (1980, 1984) haben sich in den letzten 100 Jahren einer Denktradition angenommen, welche sich in zwei entgegengesetzten Positionen formulieren lässt:
• Die einen behaupten, dass Kinder, „Wilde“, Geisteskranke und Genies sich in einem originalen, zivilisatorisch unverstellten und unbeeinflussten Gefühlsdrang unmittelbar-kreativ auszudrücken vermögen. Im Gestaltungsausdruck erscheine unbewusst Vorgebildetes, das unbeeinflusst von aller Kultur sei und sich triebhaft entäußere. Diese Position wird in der Kunst von Surrealisten wie Max Ernst, Paul Klee, André Breton, Alfred Kubin und anderen geteilt: Sie sehen in der Kunst der Primitiven eine besondere Kulturform, in der sich das unzensierte und vielgestaltige Ich naturhaft ausdrückt. Seit Dubuffet wird eine solche künstlerische Ausdrucksform unter dem Stichwort „art brut“ behandelt.
• Die kritischen Gegenstimmen unterscheiden bildnerischen Betätigungsdrang – beispielsweise des psychotischen Menschen – und künstlerische Kompetenz: Sie verweisen darauf, dass die gefeierte Ursprungs- und Naturmythologie des Kindhaften und Kranken kaum apologetisch gegen derzeitig entfremdete Verhältnisse gesetzt werden dürfe (Günter 1989). Psychotische Kunst könne kaum das richtige Abbild einer ganzen falschen Zivilisation sein, wohl aber sei sie in der Lage, die pathologischen Formen neuzeitlicher Subjektzerstörung zu demonstrieren.
Künstler der Moderne wie Joseph Beuys in seiner Rauminstallation „Das Ende des 20. Jahrhunderts“ (1983) oder in seiner Zeichnung „selbst im Gestein“ (1955), oder Walter Dahn in seinem Bild „Selbst doppelt“ (1982) bestätigen: Die Spaltung, die Zerrissenheit, die Exkorporalisierung des Menschen der Moderne ist allenfalls in ihrer Unversöhnlichkeit zu illustrieren (Menzen 1990a). Die ursprungsmythologische Tendenz, Kunst- und Naturausdruck des Menschen gleichzusetzen, wird von den Kritikern da zurückgewiesen, wo die Eigenständigkeit des Kulturellen, des spezifisch Künstlerischen verloren geht.
Seit den 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich eine Version tiefenpsychologisch und analytisch orientierter Gestaltungstherapie aufgetan (Kramer 2014; Franzke 1977; Wellendorf 1984; Schrode 1989; Schottenloher 1989). Sie versteht sich „als Therapie mit bildnerischen Mitteln auf tiefenpsychologischer Grundlage“ (so der Titel von Schrode 1989) und hat vor allem in die klinisch-stationäre Gruppenpsychotherapie Eingang gefunden (Petzold 1987). Gestaltungstherapie solcher Art sieht sich als Ergänzung verbal orientierter Psychotherapie durch den bildnerischen Ausdruck. Sie beabsichtigt die spontane Ausdrucksgestalt als eine Synthese von Innerem und Äußerem und intendiert die Vermittlung zwischen Bewusstem und Unbewusstem in der symbolisch sich entwickelnden Äußerung (Jung 1958 / 1916). Gestaltungstherapeutische Verfahren werden beispielsweise bei Menschen mit Borderline-Syndrom, mit posttraumatischen Störungen und unterschiedlichsten psychoneurotischen und psychovegetativen Störungen angewandt, sowohl in privater wie in klinisch-stationärer Praxis, besonders in der medizinisch-stationären Rehabilitation.
1.6 Der tiefenpsychologische Ansatz
Ein spezifisch tiefenpsychologischer und psychotherapeutischer Ansatz der Kunsttherapie stimmt mit dem zuletzt beschriebenen teilweise überein: Er fußt auf Freuds These, dass sich im jeweiligen symbolischen Ausdruck ein Triebschicksal offenbare. Ebenso greift er Jungs Antwort auf, dass diese These allzu leicht auf die kindliche Triebgeschichte reduziert werden könne und komplexer gesehen werden müsse. Mit Jung wird angenommen, dass der Sinn des Symbols in dem Versuch besteht, das noch gänzlich Unbekannte und Werdende analogisch zu verdeutlichen. Die Erkenntnis von Freud und Jung war, dass sich im Vorgang des Symbolisierens seelische Konflikte ästhetisch-bildnerisch dokumentieren können. Beide vermuteten, dass sich hinter dieser Stellvertretung ein affektbeladener, verhinderter seelischer Vorgang verbirgt, der eine andere Entladung (Konversion), eine Umleitung und ein Abschwellen der Erregung sucht (Katharsis). Der symbolisch angedeutete Sinnzusammenhang weise auf einen abgewehrten Ausdruck zurück. Und das Unbewusste, so Jung, entwerfe im Symbol eine Vorstellung dessen, was eigentlich gemeint sei und was nach Bewusstwerdung, nach Gestaltung dränge (Dieckmann 1972).
Freudianische und jungianische Positionen haben das Dokument des Unbewussten unterschiedlich diskutiert: Freuds Anhänger konzentrieren sich auf die Semantik, die Bedeutung des symbolischen Ausdrucks, und suchen die Ursachen in der frühen Triebgeschichte. Vertreter der jungschen Auffassung rücken den Sinnzusammenhang des individuellen Lebenswegs insgesamt in den Mittelpunkt. In der Nachfolgediskussion sind die Ziele des ästhetischen Produzierens, des ästhetischen Gestaltens entsprechend unterschiedlich: Es soll zur Regression anregen und ermöglichen, auf eine frühere, unzensierte, emotionalere Stufe der psychogenetischen Entwicklung zurückzugehen (Kris 1977). Die Differenzierung von Denk- und Bewusstseinsstrukturen soll außer Kraft gesetzt werden (Müller-Braunschweig 1964; Ehrenzweig 1974). Die ästhetische Produktion soll verdrängte Affekte freisetzen, eine Bewältigung von Konfliktspannungen durch Reduktion und Abfuhr von Triebenergie (Katharsis) in die Wege leiten und solchermaßen eine libidinöse Entlastung herbeiführen (Müller-Braunschweig 1977). Angstbesetzte Vorstellungen sollen in eine äußere bildnerische Realität überführt werden (Fenichel 1983). Das ästhetische Gestalten ermöglicht den Austausch des Triebobjekts bei Beibehaltung der Triebziele (Sublimation) und hilft dadurch, nicht-sozialisierte Impulse zu bewältigen (Schmeer 1995). Es soll im Sinn narzisstischer Regulation zum affektiven Gleichgewicht, zur Erweiterung der Ich-Grenzen beitragen (Henseler 1974; Benedetti 1979). Und es soll u. U. ein Probehandeln sein, um das, was sonst nicht möglich, nicht erlaubt ist, zu agieren (Müller-Braunschweig 1974; Schuster 1997).
Der tiefenpsychologische Ansatz der Kunsttherapie wird in privater und klinischer Praxis verwandt und ist dabei, sich mit anderen, beispielsweise verhaltens-, familien- und systemtherapeutischen Ansätzen zu liieren (Schmeer 1995; Menzen 1999; Schmeer 2006 a, b).
2 Zur Aktualität der künstlerischen Therapieformen
Die Kunsttherapie unserer Tage wird im klinisch-psychologischen und im rehabilitativen Bereich eingesetzt, und zwar stationär, ambulant und komplementär. Sie macht sich die innerpsychischen Prozesse bei der Betrachtung und bei der Herstellung von bildnerischen Ausdrücken zunutze. Ihr Zweck besteht darin, die Orientierungs- und Gefühlslagen der Patienten wiederherzustellen und Problem- wie Leidenssituationen bildnerisch zu bearbeiten. Ihr Mittel besteht darin, jenen psychischen Ausdrücken, jenen Bildern, Vorstellungsmustern, die Leiden verursachen, eine andere Ausrichtung zu geben. Im Ergebnis sollen die Bewusstseins- und Erlebnisweisen, aber auch die Verhaltensabläufe mit bildnerischen Mitteln so konstelliert werden, dass es möglich wird, das Alltagsleben neu zu sehen und zu bewältigen.
Drei praktische Perspektiven der Kunsttherapie haben sich herausgeschält – eine klinisch-neurologische und heilpädagogische-rehabilitative, eine psychosomatisch-tiefenpsychologische und eine psychiatrisch orientierte Kunsttherapie. Alle drei Perspektiven werden derzeit in der sozial- und heilpädagogisch- wie psychotherapeutisch-medizinischen Rehabilitation angewandt.
• Die klinisch-neurologische und heilpädagogische-rehabilitative Kunsttherapie sucht vor allem die Selbsterlebens- und Erfahrensformen des geistig und körperlich behinderten oder dementen Menschen zu restituieren oder zu kompensieren; und dazu bedarf es einer langwierigen Wiederaneignung der unterbrochenen