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Qualitative Medienforschung


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von Praxisformen« (Bourdieu 1976, S. 165). Wie Spieler, die Spielregeln verinnerlicht haben, handeln Menschen entsprechend ihres Habitus, ohne sich dessen bewusst sein zu müssen (Bourdieu 1998, S. 24). So ist auch »rational« vorherbestimmt (ebd., S. 17), ob jemand regelmäßig online Nachrichten liest oder mit Freunden chattet. Dass wir über solche Voraussetzungen normalerweise nicht nachdenken und auch ihre Entstehungsgeschichte vergessen, erfasst Bourdieu mit dem Konzept des »praktischen Sinns«, der wie ein Instinkt funktioniert und Akteuren erlaubt, »auf alle möglichen ungewissen Situationen und Mehrdeutigkeiten der Praxis zu reagieren« (Bourdieu 1987a, S. 190 f.). Die Habitus-Kapital-Feld-Theorie ist deshalb auch als »goldener Mittelweg« zwischen den »beiden Extremen« beschrieben worden, die soziale Praxis entweder »in einer Mechanik struktureller Zwänge« sehen oder als Ergebnis »freier Entscheidungen« (wie etwa im Lebensstil-Konzept). Habitus (»Leib gewordene Geschichte«) und Feld (»Dingcharakter gesellschaftlicher Verhältnisse«) gehören bei Bourdieu zusammen, weil »die objektiven sozialen Strukturen den Habitus ebenso strukturieren« wie dieser die Praxis (Schwingel 2005, S. 73 f.).

      Folgt man Bourdieu, dann ist menschliches Handeln nicht ohne den Habitus und ohne die soziale Position zu erklären. Das hat Folgen für das Untersuchungsdesign – vor allem für die Kategorien, die meine Untersuchung leiten, und damit dann z. B. auch für den Leitfaden, mit dem ich in Interviews gehe, und für die Ergebnisse, die ich aus entsprechenden Gesprächsprotokollen ableite (vgl. Löblich 2016). Um den praktischen Sinn zu verstehen, den ein Mensch etwa mit der Nutzung von Medienangeboten verbindet (Habitus als Modus Operandi), muss ich wissen, wie er sozialisiert wurde, wie er lebt und über welche Dispositionen er verfügt (Habitus als Opus operatum), wie viel Kapital er besitzt und wie sich dieses Kapital zusammensetzt (Position im sozialen Raum). Außerdem dürften Medienangebote auch genutzt werden, um Kapital zu akkumulieren (Kapitalmanagement), um die eigene Position zu erkennen und um diese Position zu markieren. Diese Form des Identitätsmanagements kann über soziale Netzwerke erfolgen, über Fernsehsendungen oder über Internetseiten für Spezialinteressen – Angebote, die sowohl dazu dienen, Signale in den sozialen Raum zu senden (das ist mein Kapital, diesen Normen und Werten fühle ich mich verpflichtet), als auch diesen Raum zu beobachten und so die eigene Position zu bestimmen. Zeitungen, Zeitschriften, TV-Sendungen oder Internetangebote versprechen kulturelles und symbolisches Kapital und können darüber hinaus zum sozialen und zum ökonomischen Kapital beitragen (vgl. Meyen u.a. 2009). Bei Bourdieu streben letztlich alle Menschen nach Kapital, um sich von anderen abzuheben und ihre Position zu verbessern. Da allerdings erstens in jedem sozialen Feld eine andere Kapitalmischung Erfolg verspricht und da die Investition in bestimmte Kapitalarten zweitens auch von der Einschätzung der eigenen Position und damit der Erfolgsaussichten abhängt, unterscheiden sich die Mediennutzer sowohl bei der konkreten Kapitalakkumulation als auch in der Bedeutung, die sie Medien insgesamt oder einzelnen Anwendungen zuschreiben (vgl. Jandura/Meyen 2010).

      Habitus II: Anwendungen in der qualitativen Medienforschung

      Neben Untersuchungen zur Mediennutzung und zur Medienaneignung (vgl. Meyen 2007; Scherer 2013) wird Bourdieus Soziologie in der qualitativen Medienforschung überall dort genutzt, wo menschliches Handeln im Mittelpunkt steht (vgl. die Überblicksdarstellungen in Park 2014 und Wiedemann 2014 sowie die Beispiel-Arbeiten in Wiedemann/Meyen 2013): in der Journalismusforschung (hier vor allem in Studien zum journalistischen Selbstverständnis, zum Arbeitsalltag in Redaktionen, zu den Beziehungen zwischen Journalisten und Politikern sowie zur Kodifizierung von journalistischer Qualität), im Bereich Organisationskommunikation und Public Relations (etwa wenn es um den Berufshabitus geht, um die Kapitalformen, die im Feld geschätzt werden, oder um strategische Kommunikation), in der Medieninhaltsforschung (Stichworte Sprache, symbolische Macht und Autorität), in der Mediensystemforschung (Beziehungen zwischen Medienangebot und sozialem Raum) sowie in der wissenschaftssoziologisch orientierten Fachgeschichtsschreibung. Thomas Wiedemann (2012) hat das Habitus-Konzept in seiner Biografie von Walter Hagemann z. B. erstens geholfen, das Untersuchungsmaterial einzuschränken und zu strukturieren, und zweitens intersubjektive Nachvollziehbarkeit gesichert – ein zentrales Qualitätskriterium gerade bei qualitativ angelegten Fallstudien.

      Einige Arbeiten nutzen Bourdieus Terminologie auch für Kollektivbiografien. Solche Gruppenporträts stützen sich auf vergleichsweise große Datensätze (etwa: alle Vertreter einer bestimmten Professoren-Generation oder möglichst viele und theoriegeleitet ausgewählte Akteure eines nationalen journalistischen Feldes) und beschreiben eine Art Norm: Wie alt war der »durchschnittliche« Professor oder die »durchschnittliche« Journalistin, als er oder sie in das jeweilige Feld eintraten, welche Qualifikationen und welche Herkunft waren für die erste feste Stelle nötig und wann gab es eine Beförderung? Wie war die Situation 1975, wie 1990 und wie 2010? Die entsprechenden Werte helfen dann, individuelle Karrieren einzuordnen und zu bewerten. Die Beschreibung eines Kollektiv-Habitus macht auch deshalb Sinn, weil sich die Position der sozialen Felder im sozialen Raum genauso unterscheidet wie die Position von Subfeldern oder Akteuren in einem bestimmten Feld selbst. Kommunikationswissenschaft und Medienforschung z. B. sind im wissenschaftlichen Feld eher in einer untergeordneten Position zu finden (im Vergleich zu Leitdisziplinen wie Biologie, Hirnforschung oder Physik) – mit Folgen für den Habitus aller Fachvertreter. Den entsprechenden Mechanismus kann man auch in einer Kollektivbiografie von DDR-Journalisten studieren, die Michael Meyen und Anke Fiedler (2013) konstruiert haben. Quelle waren 121 Lebensläufe, die zum einen mithilfe von Memoiren und weiteren biografischen Quellen zusammengestellt wurden und zum anderen über persönliche Interviews. Vergleichbarkeit und Nachvollziehbarkeit sicherten hier ganz ähnlich wie bei Thomas Wiedemann (2012) Kategorien, die der Soziologie Bourdieus entlehnt wurden und vor allem auf den Habitus der Journalisten zielten.

      Der kollektivbiografische Ansatz wird auch von Klaus Beck, Till Büser und Christiane Schubert (2016) aufgenommen, die für die Analyse von Mediengenerationen die Konzepte Feld der Medien, mediales Kapital und medialer Habitus entwickelt und genutzt haben. Während in dieser Studie alle Medienakteure zum Feld der Medien gehören (professionelle und gelegentliche Kommunikatoren genauso wie Rezipienten), beschreibt der Begriff »mediales Kapital« die Kapitalformen, die in diesem Feld symbolisch wirksam werden. Dazu gehören auf Rezipientenseite z. B. Medienkompetenzen und Geräteausstattung, aber natürlich auch das Eigentum an Medienproduktionsmitteln oder die Fähigkeit von Akteuren oder Gruppen, »mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, Öffentlichkeit für sich und die eigenen Belange herzustellen und auf die journalistische Berichterstattung Einfluss zu nehmen« (Beck u. a. 2013, S. 245).

      Der Begriff »medialer Habitus« erfasst bei Beck, Büser und Schubert (2013, S. 251) die »mediale Seite des persönlichen Habitus, also alle Dispositionen, Bewertungen, Erfahrungen und Erwartungen mit Bezug zum Medienhandeln«. Weiter im Text: Der mediale Habitus einer Person »beschreibt ein Handlungsrepertoire, einen Spielraum auf dem Handlungsfeld der Medien. Empirischer Mediennutzungsforschung zugänglich sind die Folgen des Habitus in Gestalt des konkreten Medienhandelns und die Interpretationen dieses Handelns durch die Akteure selbst. Diese können in Befragungen, Tiefeninterviews oder Tagebüchern über ihre Medienhandlungen und ihre Dispositionen (als wesentliche Komponenten des Habitus) Auskunft geben« (ebd., S. 251).

      Diese Arbeiten von Beck, Büser und Schubert (2013; 2016) werden hier auch deshalb vergleichsweise ausführlich erwähnt, weil sie zeigen, wie die theoretische Perspektive den Untersuchungsgegenstand formt. Mit dem Habitus-Konzept »geraten statt der spontanen Motive, Heuristiken und Kalküle der Mediennutzungsepisode stärker auch die habitualisierten und ritualisierten Formen des Medienhandelns in den Blick« (Beck u. a. 2013, S. 253). Außerdem fragen Mediennutzungsstudien, die auf Bourdieu aufbauen, nach dem »praktischen Sinn des Mediengebrauchs, und zwar aus der Sicht der Akteure: Medienrepertoires, Medienstile und Medienbewertungen stehen dabei im Mittelpunkt« (ebd.).

      Auch in den anderen Gegenstandsbereichen qualitativer Medienforschung lässt sich leicht zeigen, dass mit jeder Sozialtheorie nicht nur eine bestimmte Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte verbunden ist, sondern auch eine genuine Erkenntnisperspektive. Theoretische Ansätze sind nicht nur dazu da, falsifiziert zu werden (wie Vertreter des kritischen Rationalismus ihren Jüngern manchmal glauben machen wollen). Theorien stellen zuallererst Begriffe bereit, die einen Zugang zur Realität erlauben (vgl. Wiedemann/ Meyen 2013, S. 9). Wer