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Qualitative Medienforschung


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dem generellen Verständnis des Medien-Rezipienten-Verhältnisses hat Agency noch eine weitere Komponente – die des individuellen Erlebens: Der Psychologe Albert Bandura weist darauf hin, dass ein wesentlicher Aspekt von Agency (ins Deutsche als Selbstwirksamkeit übersetzt) das Kontrollerleben ist, welches wiederum die Essenz des Menschseins selbst sei (Bandura 2001, S. 1). In diesem Zusammenhang kommt dem Sich-seiner-selbst-bewusst-Sein eine wichtige Bedeutung zu: Um überhaupt in der Lage zu sein, Agency zu erlangen, müssen Menschen sich zunächst als handlungsfähige Subjekte wahrnehmen. Dieses Bewusstsein wird im Laufe des Sozialisationsprozesses erworben. Es beginnt sich zu manifestieren, wenn Kleinkinder zum ersten Mal bemerken, dass sie Objekte manipulieren können, und ist, so lässt sich vermuten, niemals ganz abgeschlossen. Agency ist also einerseits erworben und in ihrer Ausprägung von äußeren determinierenden Faktoren abhängig. Sie ist damit niemals absolut, sondern stets graduell und lässt sich, einmal verfestigt, nur schwer greifen, da Agency-Prozesse sich auf metakognitiver Ebene abspielen. Agency ist also lediglich als generelles Gefühl vorhanden, das sich nur schwer anhand einzelner Handlungen verdinglichen lässt. Andererseits lässt sich anhand empirischer Studien nachweisen, dass Teilnehmerinnen einer experimentellen Studie in der Regel sehr wohl wissen, wann sie in Kontrolle der Ereignisse sind und wann nicht – ungeachtet dessen, ob im Experiment die Resultate manipuliert wurden (Metcalfe/Greene 2007).

      Diese Untersuchungen zeigen, dass Agency in der Kommunikations- und Medienwissenschaft auf zwei Ebenen Relevanz hat: einerseits, um ein grundlegendes Verständnis von den beteiligten Prozessen von Handlung und von Medienrezeptionsaktivitäten zu erlangen. In diesem Sinn können Rezipienten – egal welchen Mediums – nicht nicht aktiv und handlungsbefähigt sein. Andererseits ermöglicht es, Handlungsbefähigung – Agency – nicht nur als Voraussetzung von Medienkommunikation zu verstehen, sondern auch als eine seiner Erlebensqualitäten. Agency lässt sich unter bestimmten Voraussetzungen ästhetisch erfahren – immer dann, wenn die spezifischen Taktiken der Agency für die Rezipientinnen bewusst oder signifikant werden. Interaktivität, Medienkompetenz, Flow-Erleben oder Partizipation können so als spezifische Varianten von Agency betrachtet werden.

      Der Begriff »Doing Media« entlehnt seinen Ursprung aus performativen Ansätzen der Sprach- und Kulturwissenschaft. Der von Candace West und Don Zimmerman (1987) in den 1980er-Jahren geprägte Begriff wurde durch Judith Butler (1990) aufgegriffen und weiter ausdifferenziert. Butler macht insbesondere auf den verkörperlichten Zusammenhang von Bedeutungskonstruktion aufmerksam: Gender ist nicht, es wird sprachlich hergestellt und inkorporiert. Der Begriff »Doing Media« will damit die Aufmerksamkeit für die Vielschichtigkeit von Medienhandlungsprozessen schärfen – einerseits in Bezug auf die Zeitlichkeit (vor, während und nach der konkreten Rezeptionsphase) und die Multiplizität (viele Plattformen, Inhalte, Zugänge oder Formen) von Mediennutzung, andererseits in Bezug auf die Vielschichtigkeit des Handelns selbst, das mindestens kommunikativ und performativ erfolgen kann.

      Agency und ihr soziologischer Ursprung

      Der Ansatz von Agency als Handlungsbefähigung von Individuen in größeren sozialen Systemen findet bei Alfred Schütz, Max Weber oder Talcott Parsons, bei Pierre Bourdieu, Anthony Giddens oder Michel Foucault Beachtung. Er stellt ein zentrales Moment in der soziologischen Handlungstheorie dar. In weitgehender Übereinstimmung lässt sich Agency dabei als die grundlegende Befähigung beschreiben, Handlungen auszuüben, während der Prozess der Handlung selbst (»action«) sich davon unterscheidet. Agency ist hier deswegen so zentral, da sie als das Moment betrachtet wird, durch das Individuen gesellschaftliche Transformationsprozesse anstoßen können. Doch trotz ihrer zentralen Stellung gilt Agency als eine »Blackbox«, da die konkreten Prozesse zwar theoretisch beschrieben, aber empirisch wenig untersucht worden sind.

      Das dargestellte Spannungsfeld zwischen Aktivitäten und Handlungsmacht der Nutzer auf der einen und der strukturellen Macht der Medien auf der anderen Seite schließt an die Agency-Structure-Debatte der Soziologie an: Die Systemtheorien sind an der übergeordneten Gesellschaftsstruktur interessiert und wenden entsprechend eine Makroperspektive an. Doch lassen sich auch handlungstheoretische Konzepte ausmachen, die sich eher als Meso- bzw. Mikroperspektive beschreiben lassen und in denen das menschliche, soziale Handeln und damit auch die Kommunikationsprozesse im Fokus der Betrachtungen stehen. Lässt sich diese Aufteilung noch in der frühen Soziologie nachvollziehen, kann genau das Zusammenspiel von Struktur und Agency als das zentrale Anliegen der modernen soziologischen Forschung betrachtet werden. Der Ansatz von Anthony Giddens und seine »Strukturationstheorie« (Giddens 1984) stehen dabei exemplarisch für eine Reihe soziologisch-praxeologischer Ansätze, die erklären, wie sich das reziproke Gefüge von strukturierender Gesellschaft und individuellem Handeln ausgestaltet (siehe z.B. Bourdieu und Habitus, Foucault und Power/ Knowledge, Joas und Kreativität des Handelns). Von soziologischem Interesse ist es, herauszufinden, »how any habitus or structure can produce actions that fundamentally change it« (Ahearn 2001, S. 119) – wie also Strukturen Handlungen bedingen können, die das Potenzial haben, eben jene Strukturen zu verändern. Ohne Agency, so die grundlegende Annahme, sind weder Handeln selbst noch gesellschaftliche Transformationsprozesse möglich.

      Der Agency-Ansatz in der Medienkommunikation

      Der Agency-Ansatz in der Medienkommunikation begreift Medienhandeln konsequent als Form des sozialen, kommunikativen Handelns und wendet dies auf Medienumgebungen an. Dies betrifft sowohl die Kommunikation zwischen Medienprodukten und deren Rezipientinnen (z. B. Film und Fernsehsendungen) als auch die Kommunikation zwischen Menschen mittels Medien (z. B. soziale Medien wie Facebook). Der Ansatz ist dabei konsequent rezipientenorientiert, d. h., er vermutet keine Abhängigkeit der Agency von bestimmten Medien und deren Medialität, sondern betrachtet Agency als grundsätzlich vorhanden – allerdings moduliert durch bestimmte mediale und textuelle Strukturen und bestimmte Dispositionen der Rezipienten (vgl. Eichner 2014, S. 229). Diese Perspektive – ausgehend von den Rezipientinnen und Rezipienten und deren Agency – ist insofern bedeutsam, als dass sie auch eine irrtümliche Aktiv-Passiv-Dichotomie verhindert: In einer medienzentrierten Sichtweise entstanden beispielsweise Ansätze, welche die Möglichkeiten des Internets und die damit verbundene Transformation von Zuschauern in User, Produser und Co-Kreatoren und deren vermeintlich demokratisierendes Potenzial feierten und das Fernsehen als passives Medium abstempelten (zur näheren Erläuterung vgl. van Dijck 2009, S. 43). Wird Medienhandeln jedoch im oben beschriebenen Sinn als grundsätzlich agentischer Prozess konzeptualisiert, ist evident, dass Medienkommunikation immer aktives, sinnstiftendes und potenziell transformatives Handeln ist.

      Am deutlichsten kommt der Bezug zur Agency in den Cultural Studies unter Rückgriff auf praxeologische Ansätze der Soziologie zum Tragen: Bereits in den späten 1970er-Jahren entwarf Stuart Hall in seinem Encoding/Decoding-Modell das Konzept der drei Lesestrategien, welches die Rezipientenaktivitäten radikaler fasste als der damalige dominante Nutzenansatz. Hall erkennt mit seinem Modell an, dass Rezipientinnen nicht automatisch der strukturellen Macht der Medien unterworfen sind, sondern kreative und soziale Ermächtigungsstrategien anwenden (vgl. Hall 1980). Sein Ansatz kann als maßgeblich für den folgenden paradigmatischen Wechsel vom Transmissionsmodell hin zum Bedeutungsmodell gesehen werden. Noch deutlicher auf die Handlungsbefähigung der Rezipienten bezogen gestaltete sich die Argumentation von Fiske (2009/1987), der – unter Rückgriff auf Barthes writerly und readerly texts – die Polysemie von Texten betont. Nicht der Text oder das Publikum sind in seinem Ansatz entscheidend, sondern dass sich Bedeutung im Akt der Rezeption überhaupt erst konstituiert (→ Winter, S. 86 ff.). In den 1990er-Jahren wurde Fiskes Ansatz insbesondere durch die aufkommenden Fan Studies (vgl. Jenkins 1992; Bacon-Smith 1992) aufgegriffen und seitdem vielfach weiterentwickelt (siehe z.B. Baym 2000; Hills 2002). Ein zentraler Argumentationsstrang bezieht sich dabei auf Michel de Certeaus Konzept des Poaching, verstanden als kreative und imaginative Textarbeit, in der Versatzstücke anderer Medien sowie Versatzstücke des eigenen Selbst in den jeweiligen Text integriert werden. Dieser wird in Folge unkontrollierbar, da er nicht nur im Sinne des Encoding/Decoding-Modells unterschiedlich interpretiert, sondern grundsätzlich verändert wird.

      In Zeiten konvergierender Medienumgebungen, entgrenzter Medientexte und produzierender Mediennutzerinnen