Dagmar Fenner

Selbstoptimierung und Enhancement


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und noch gar keine Vorstellung vom Besitz völlig neuer Eigenschaften hätten (vgl. ebd./BostromBostrom, Nick, Kap. 3). Wenn genauso wie im gemäßigten Bioliberalismus das individuelle Enhancement im Zentrum steht und gesellschaftliche und politische Konsequenzen vernachlässigt werden, ist dies angesichts der Radikalität der Selbstoptimierungs-Methoden noch viel gravierender. Eine weit verbreitete Befürchtung einer unerwünschten sozialen Auswirklung lautet beispielsweise, die viel intelligenteren „posthumans“ könnten die naturbelassenen „humans“ verdrängen, versklaven oder ausrotten (vgl. AnnasAnnas, George u.a., 162). Transhumanisten selbst schlagen die simple Lösung vor, bei kohlenstoffbasierten Menschen hohe Moralvorstellungen zu fördern und den künstlichen Intelligenz-Maschinen einen entsprechenden Moralkodex mit Werten der Toleranz und Achtung gegenüber Menschen einzuprogrammieren (vgl. BostromBostrom, Nick u.a., Kap. 3.3). Bei einer vollständigen Substitution eines biologischen Gehirns mit unterstützenden Gehirn-Computer-Schnittstellen durch künstliche Intelligenz stellten sich die Fragen der klassischen RoboterethikRoboterethik, wie Computer Moral bzw. das situationsbezogene Abwägen von Gründen und Argumenten lernen und ethische Verantwortung übernehmen könnten. Viele Transhumanisten betonen zwar, Gefahren und Risiken wie z.B. auch einer externer Überwachung seien sehr ernst zu nehmen und es brauche dazu öffentliche Diskussionen und internationale Institutionen (vgl. ebd./SorgnerSorgner, Stefan, 143). Fraglich bleibt aber, wie demokratische Verfahren zur ethischen Steuerung des „Fortschritts“ und digital vernetzte technologische Singularitäten vereinbar sein sollen.TranshumanismusPosthumanismusBioliberalismus

      

Kommentierte Kurzbibliographie zu Kapitel 1

      Um sich in die verschiedenen bioethischen Grundpositionen der Selbstoptimierungs-Debatte einzulesen, empfehlen sich folgende „Klassiker“: Bei den Biokonservativen FukuyamaFukuyama, Francis (2002), HabermasHabermas, Jürgen (2002) und KassKass, Leon u.a. (2003), bei gemäßigten Bioliberalen GesangGesang, Bernward (2007) oder Aufsätze der Medizinethikerin Schöne-SeifertSchöne-Seifert, Bettina, die zudem eine hilfreiche Sammlung klassischer Texte mitherausgebracht hat (2009a), unter den etwas radikaleren Trans- und Posthumanisten Beiträge von SavulescuSavulescu, Julian und BostromBostrom, Nick, die gemeinsam einen Sammelband (2009) zusammenstellten, HarrisHarris, John (2007) oder SorgnerSorgner, Stefan (2016) mit einführendem Charakter.

      2 Normative Bezugsgrößen

      Um sich ein umfassendes Bild über den aktuellen Selbstoptimierungstrend zu machen, sind Kenntnisse und Forschungsmethoden aus verschiedensten Disziplinen und letztlich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit unverzichtbar. Bei einem empirisch-deskriptiven Zugang etwa im Rahmen medizinischer, naturwissenschaftlich-technischer, soziologischer und psychologischer Studien über Selbstoptimierung wird Wissen aus der Erfahrung gewonnen mit dem Ziel einer möglichst exakten und intersubjektiv überprüfbaren Beschreibung und Erklärung dessen, was der Fall ist. Im Gegensatz dazu geht es bei dem hier gewählten normativ-wertenden Zugang nicht um eine wertneutrale Beschreibung des Ist-Zustandes oder eine Prognose wahrscheinlicher zukünftiger Veränderungen von Technologien, gesellschaftlichen Verhältnissen oder psychischen Zuständen, sondern um normative, d.h. wertende Aussagen über bestimmte Selbstoptimierungspraktiken. Im Zentrum philosophisch-ethischer Reflexionen steht anstelle des „Seins“ das „Sollen“. Die EthikAllgemeineAllgemeine EthikEthik ist eine Disziplin der praktischen Philosophie, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien zur Beantwortung der Frage nach dem richtigen menschlichen Handeln zu begründen versucht (vgl. Fenner 2007, 16). Anders als eine theologische Ethik setzt eine säkulare philosophische Ethik keine bestimmte Religion oder Weltanschauung voraus, sondern ihre Reflexionen und Begründungen sollen dem Anspruch nach für alle vernunftfähigen Lebewesen einsichtig sein. Während sich empirische Vorgehensweisen auf Beobachtungen, Umfragen oder Experimente stützen, bedienen sich normativ-wertende Betrachtungen philosophischer Methoden der kritischen Hermeneutik und des rationalen Argumentierens und Begründens. Wichtig ist daher eine Argumentationslehre, die den richtigen Umgang mit sich teilweise widerstreitenden Gründen und Argumenten klärt und das Auge für starke und schwache oder logisch gültige und ungültige Argumente schult. Neben der Ethik ist es zusätzlich noch das Recht, das klar wertend und noch stärker vorschreibend und verordnend zu menschlichen Handlungen Stellung bezieht: Die in Gesetzestexten schriftlich fixierten rechtlichen Regelungen neuer Biotechnologien sind zwar nur dann legitim, wenn sie sich mit ethischen Argumenten rechtfertigen lassen. Sie können aber die allein an die innere Selbstverpflichtung appellierenden Normen besser durchsetzen, indem sie die schwachen moralischen Sanktionen wie gesellschaftlicher Tadel oder Ausgrenzung zusätzlich durch staatliche Sanktionen wie Bußen oder Gefängnisstrafen unterstützen.

      Um menschliche Handlungen bewerten, kritisieren oder rechtfertigen zu können, beziehen wir uns in aller Regel auf gesellschaftlich anerkannte Werte, Normen, Prinzipien oder Rechte. Während in alltäglichen Diskussionen die Richtigkeit solcher normativer Maßstäbe meist stillschweigend vorausgesetzt wird, prüft die wissenschaftliche Disziplin der philosophischen Ethik die Legitimität der dabei erhobenen Geltungsansprüche. In diesem Kapitel sollen vier normative Bezugsgrößen, Konzepte oder Prinzipien genauer untersucht werden, die bei der ethischen Positionierung für oder gegen Selbstoptimierung eine große Rolle spielen: „Glück“ und „gutes Leben“ als individualethischer Maßstab (Kap. 2.1), „Gerechtigkeit“ als sozialethischer Maßstab (Kap. 2.2), „Freiheit“ und „Würde“ (Kap. 2.3) sowie „Normalität“ und „Natürlichkeit“ (Kap. 2.4). Auf sie wird zwar in der Enhancement-Debatte häufig ohne weitere Erläuterungen Bezug genommen, aber bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als äußerst mehrdeutig und vielschichtig. Die seit den Anfängen der philosophischen Ethik in der griechischen Antike präsenten Begrifflichkeiten sind bis heute Gegenstand philosophischer Kontroversen, ohne dass sich einheitliche und allgemein anerkannte Definitionen durchgesetzt hätten. Um eine differenzierte und gut begründete Positionierung für oder gegen Selbstoptimierungs- oder Enhancement-Praktiken entwickeln zu können, empfiehlt sich daher eine Klärung der Konzepte „Glück“, „Gerechtigkeit“, „Natürlichkeit“, „Freiheit“ und „Würde“. Diese Liste menschlicher Grundwerte oder Prinzipien beansprucht keine Vollständigkeit, sondern ist auf die Selbstoptimierungs-Debatte zugeschnitten. Ganz allgemeine Grundwerte wie „Leben“ oder „Verantwortung“ bilden gleichsam die Grundlage der Diskussion über Selbstoptimierung, weil eine Optimierung natürlich das Leben der Betroffenen voraussetzt und ethische Reflexionen nur sinnvoll sind unter der grundsätzlichen Möglichkeit und Bereitschaft der Menschen zur Übernahme von Verantwortung. Viele weitere Werte oder Prinzipien werden in anderen Kapiteln ausführlich erörtert, z.B. „Gesundheit“ (Kap. 1.3), „Schönheit“ (Kap. 3.1), „Authentizität“ (Kap. 4.1) oder „Bildung“ (Kap. 4.2).

      In den darauffolgenden Kapiteln 3–5 stehen dann nicht mehr ethische Begründungsfragen und begrifflich-konzeptuelle Schwierigkeiten im Zentrum, sondern einzelne Verbesserungspraktiken. Diese Reflexionen sind daher nicht mehr der begründungsorientierten, theorielastigen „allgemeinen Ethik“ zuzurechnen, sondern einer problembezogenen, praxisorientierten „angewandten Ethik“: Angewandte EthikEthikAngewandte ist eine noch junge Teildisziplin der Ethik, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien auf spezifische Handlungsbereiche und konkrete gesellschaftliche Probleme anwendet (vgl. Fenner 2010, 10ff.). Entsprechend der verschiedenen menschlichen Handlungsfelder mit unterschiedlichen moralischen Konflikten haben sich mittlerweile klassische Bereichsethiken wie Bio-, Wirtschafts- und Medienethik etabliert. Aufgrund des deutlichen Schwerpunkts auf dem biomedizinischen Enhancement in diesem Buch wären Fragen der Selbstoptimierung zunächst der weiteren Bereichsethik der BioethikEthikBio- zuzuordnen, die sich mit den ethischen Problemen im Umgang mit allem Lebendigen widmet. Angesichts der Dreiteilung des Lebendigen in menschliches, tierliches und pflanzliches Leben gehören sie im engeren Sinn zur MedizinethikEthikMedizin-, die sich mit den ethischen Problemen beim Umgang mit medizinischen Möglichkeiten im Gesundheitswesen befasst (vgl. ebd., 53). Angewandte Ethik versteht sich generell nicht mehr als rein wissenschaftliche Disziplin, sondern weitet sich aus zu einer Tätigkeit des gemeinsamen