Dagmar Fenner

Selbstoptimierung und Enhancement


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die GerechtigkeitGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“. Im Gegensatz zum vertikalen Selbstbezug bei der prudentiellen Suche nach dem persönlichen Glück tritt bei moralischen Reflexionen über die gebotene Rücksichtnahme auf andere die horizontale Achse mit Interaktionen zwischen den Menschen in den Fokus. Insbesondere wenn es um das Enhancement auf der Basis neuerer Biotechnologien wie etwa Psychopharmaka oder Gentechnik geht, wirft die Selbstoptimierung neben der Frage nach der Verbesserung der Lebensqualität der Einzelnen oft auch diejenige nach der Qualität des Zusammenlebens auf. Aus einer sozialethischenEthikSozial-, Sollens- oder moralischen Perspektive befürchten viele Kritiker des Selbstoptimierungstrends den Zerfall der Gemeinschaft in egozentrische und narzisstischeNarzissmus Einzelindividuen, die asozial sind und sich nicht mehr um das Gemeinwohl kümmern (vgl. Balandis u.a., 149/KingKing, Vera u.a., 295). Es wird mit Sorge beobachtet, wie sich das ausgeprägte Streben der Individuen nach Selbstoptimierung mit immer wirksameren Mitteln auf ihr Verhältnis zu den Mitmenschen und auf die GerechtigkeitGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“ und Chancengleichheit in einer Gesellschaft auswirkt. Was „Gerechtigkeit“ genau bedeutet, darüber gibt es allerdings nicht weniger vielfältige Vorstellungen und Konzeptualisierungsweisen als beim Glücksbegriff. Die alltäglichen Gerechtigkeitsvorstellungen genauso wie die philosophischen Gerechtigkeitstheorien basieren aber in aller Regel auf einer der beiden grundlegenden Intuitionen: Zumeist bildet die Idee der Gleichheit („EgalitätEgalitarismus“) sowohl im Alltagsverständnis als auch in der philosophischen Tradition den Kern von Gerechtigkeit: Es wird ein interpersonaler Vergleich zwischen den Menschen vorgenommen und als gerecht gilt, wenn alle in ähnlichen Situationen gleich behandelt werden. Es stellt sich dann jedoch die von Amartya SenSen, Amartya aufgeworfene Frage „Equality of what?“, also worauf genau die Gleichheit ganz konkret bezogen werden soll. Wie zu sehen sein wird, kann es z.B. die Gleichheit an Regeln, Gütern, Chancen oder Wohlergehen sein. Im Kontrast zu dieser Idee der Gleichheit und des interpersonalen Vergleichs ist es nach der zweiten Grundidee von Gerechtigkeit vielmehr gerecht, wenn jede Person ohne Vergleich das bekommt, was sie verdient: Es steht dann einzelnen Menschen etwas an sich oder absolut gesehen zu, ganz unabhängig davon, was andere haben (vgl. KrebsKrebs, Angelika, 7ff.). Diese grundlegende Alternative spiegelt sich auch in der aktuellen philosophischen Gerechtigkeitsdebatte mit den gegensätzlichen Positionen des „Egalitarismus“ und „Non“- oder „InegalitarismusNonegalitarismus (Inegalitarismus)“ wider, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist:

       Egalitarismus: komparative egalitäre Gerechtigkeit (Kap. 2.2.1)

       Nonegalitarismus: adressatenbezogene inegalitäre Gerechtigkeit (Kap. 2.2.2)

      2.2.1 Egalitarismus: komparative, egalitäre Gerechtigkeit

      1) Wirtschaftsliberaler EgalitarismusEgalitarismuswirtschaftsliberaler: VerfahrensgerechtigkeitGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“Verfahrens- in der freien Marktwirtschaft

      Eine mögliche Konkretisierung der egalitären Idee der Gleichheit ist ein formaler EgalitarismusVerfahrensegalitarismusEgalitarismusVerfahrens-, bei dem wie in einem Sportwettkampf für alle Beteiligten ungeachtet ihrer Herkunft oder Religion und ohne jede Privilegierung die gleichen Regeln gelten. GerechtGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“ oder ungerecht können nämlich nicht nur Personen und ihre Handlungen genannt werden, sondern auch Institutionen oder Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen, die das Zusammenleben der Menschen regeln. Wirtschaftsliberale halten die liberale Marktwirtschaft für gerecht, weil für alle Marktteilnehmer die gleichen Regeln gelten und sich jeder frei nach seinen persönlichen Interessen am Tausch von Gütern oder Dienstleistungen beteiligen kann: Ein Tausch kommt nur dann zustande, wenn beide Interaktionspartner vor dem Hintergrund ihrer subjektiven Präferenzen das Eingetauschte als gleich wertvoll erachten. In dem etwa von Friedrich von Hayek und Robert NozickNozick, Robert vertretenen LibertarismusLibertarismus stellen die uneingeschränkte Herrschaft des Marktprinzips und die Handlungsfreiheit der Einzelnen die obersten normativen Orientierungsmaßstäbe dar (vgl. dazu Kymlicka, 98ff./Hinsch 2016, 83f.). Die allgemein geltenden Normen beschränken sich dabei im Wesentlichen auf ökonomische Regeln eines fairen Tausches und das Recht auf Eigentum, d.h. insbesondere das Recht auf die Erträge aus den je individuellen Begabungen und Leistungen. Gemäß Nozicks Anspruchstheorie der Gerechtigkeit haben die Bürger einen Anspruch auf alle Besitztümer, die sie durch Tausch, Kauf oder Schenkung erworben haben (vgl. NozickNozick, Robert, 144f.). Die Rolle des Staates beschränkt sich im Sinne eines Minimal- oder Nachtwächterstaates auf den Schutz der Rechte auf Leben und Eigentum seiner Bürger, das Verhindern von Betrug und die Durchsetzung von Verträgen, ohne dass er aber ein öffentliches Schul-, Gesundheits- oder Verkehrswesen bereitstellen würde. Denn eine Besteuerung zu solchen allgemeinen Zwecken sowie eine staatliche Umverteilung von persönlich erwirtschafteten Gütern wird als eine ungerechtfertigte Form von Gewaltausübung und Verletzung individueller menschlicher Freiheitsrechte angesehen (vgl. ebd., 11; 143). Abgelehnt werden damit die Ideen einer Verteilungs- und sozialen Gerechtigkeit, die gegen das liberale Marktprinzip verstoßen und aus libertärer Sicht auf einem Missverständnis von Gerechtigkeit basieren. Die Marktwirtschaft als spontane Ordnung lässt beliebige soziale und ökonomische Ungleichheit zu, die als Resultat eines gerechten Verfahrens stets als gerecht gelten. Bezüglich der teilweise kostspieligen, neu auf den Markt kommenden Enhancement-Methoden wäre gemäß Libertarismus folglich jede Verteilung in der Gesellschaft gerecht, wenn sich nur alle an die geltenden Regeln des freien WettbewerbsGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“Wettbewerbs- halten.

      Gerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“EgalitarismusAus Sicht der Kritiker des libertären Gerechtigkeitsverständnisses kann aber das Marktprinzip solange nicht zu einer Egalitarismuswirtschaftsliberalergerechten Güterverteilung führen, als dabei die sehr ungleichen Startbedingungen in keiner Weise berücksichtigt werden (vgl. Kymlicka, 102/Fenner 2010, 364f.). Zu denken ist v.a. an das Erbe von Vermögen oder Privateigentum und die stark abweichenden persönlichen physischen und psychischen Dispositionen. Fast ebenso gravierend wie angeborene Charakterschwächen oder Behinderungen sind aber die ungleichen sozialen Entwicklungschancen, weil Kinder aus einkommensschwachem oder bildungsfernem Elternhaus in viel geringerer Weise unterstützt und gefördert werden. Sie bilden entsprechend weniger Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl aus und entwickeln geringere Marktkompetenz, d.h. verfügen über weniger gute Ausbildungsmöglichkeiten, Produktivität und Fähigkeiten zur Selbstvermarktung (vgl. Kymlicka, 128f.). Da diese ungleiche Erstausstattung an Gütern und Eigenschaften nicht auf eigene Verdienste und Leistungen zurückgeht, steht sie den Begünstigten schwerlich berechtigterweise zu und scheint damit nicht als gerecht bezeichnet werden zu können. In der Gerechtigkeitsdebatte wird der Einfluss von Glück, Zufall oder Schicksal (englisch „luck“) von den Vertretern des Schicksals-EgalitarismusEgalitarismusSchicksals- („luck“-) („Luck Egalitarianism“) thematisiert, der im Deutschen irreführend als „Glücks-Egalitarismus“ übersetzt wird (vgl. Wollner, 249). Ihnen zufolge ist eine ungleiche Verteilung aufgrund unterschiedlicher Herkunft, Anlagen und Talente moralisch problematisch, weil diese zufällig sind und niemand „etwas dafür kann“. Gerecht können nach dieser überzeugenden Argumentation nur diejenigen Ungleichheiten sein, die sich auf individuelle Entscheidungen, Anstrengungen und Handlungen zurückführen lassen. Die ungleichen Marktchancen werden aber in der liberalen Marktwirtschaft nicht beseitigt, sondern vielmehr weiter ausgebaut und durch Lohnunterschiede bestätigt. Ohne staatliche Umverteilung kommt es zu einer großen Ungleichverteilung der Einkommen und des Wohlstands, die wiederum unterschiedliche Chancen zum Erwerb von Gütern oder zur Erfüllung der persönlichen Wünsche und Interessen mit sich bringen. Nur formal besteht dann für alle Marktteilnehmer die gleiche negative HandlungsfreiheitFreiheit, weil Neoliberalismuskritikauch die Schlechtergestellten von niemandem am Nachfragen von Gütern und der Stillung ihrer Bedürfnisse auf dem Markt gehindert werden. Da ihnen aber unter Umständen die notwendigen materiellen Ressourcen und Kompetenzen beispielsweise zum Erwerb der neusten Enhancement-Technologien fehlen, können sie ihre Handlungsfreiheit nicht ausüben und ihre