Libertäre sämtliche Eingriffe in die liberale Wirtschaftsordnung zur Durchsetzung sozialer GerechtigkeitGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“ für ungerecht erklären, geht es dem sozialdemokratischen egalitären LiberalismusLibertarismus um Gleichheit als Resultat einer gerechten Sozialordnung. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit wurde erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts anlässlich der sogenannten sozialen Frage gestellt. Sie erlebte Ende des 20. Jahrhunderts nach dem Erscheinen von John RawlsRawls, John Theorie der Gerechtigkeit (1967) eine Renaissance, worin eine soziale Grundstruktur von Gesellschaften zur Herstellung einer substantiellen Verteilungsgerechtigkeit entworfen wird. Gerecht oder ungerecht ist gemäß der Verteilungs- oder distributiven GerechtigkeitGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“Verteilungs-, distributive die Art und Weise, wie Handlungssubjekte, Institutionen oder der Staat bestimmte Rechte und Pflichten, Güter oder Lasten verteilen. Soziale GerechtigkeitGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“soziale bzw. spezifischer eine soziale Verteilungsgerechtigkeit kann als Gesamtheit von Regeln zur Verteilung von Gütern und Lasten durch gesellschaftliche Institutionen verstanden werden, die auf eine Gleichverteilung von gesellschaftlichen Gütern abzielt und Ungleichverteilungen nur unter triftigen Gründen akzeptiert (vgl. Koller, 121f./Hinsch 2016, 82). Zu „gesellschaftlichen Gütern“ zählen sämtliche Güter, die erstens unabhängig von individuellen Lebensentwürfen grundlegende Voraussetzungen für ein gutes Leben bilden und zweitens anders als natürliche angeborene Güter im Besitz der Gesellschaft sind und von dieser verteilt werden. Welche konkreten Güter genau dazuzurechnen sind, wird in verschiedenen Gesellschaften und auch im Egalitarismus verschieden beurteilt. Übereinstimmung herrscht aber zumindest darüber, dass elementare Grundrechte und Grundfreiheiten wie etwa die Rechte auf Leben, Eigentum, Wahlrecht, Meinungsfreiheit und freie Berufswahl allen Gesellschaftsmitgliedern gleichermaßen zukommen sollen. Etwas weniger strikt fällt die Gleichheitsforderung in aller Regel gegenüber ökonomischen Gütern oder Ressourcen wie materiellen Mitteln, Ausbildung und Zugangsmöglichkeiten zur Arbeitswelt sowie sozialen Stellungen aus, d.h. beruflichen Positionen und öffentlichen Ämtern, die mit unterschiedlich viel Einkommen, Macht und Ansehen verbunden sind (vgl. ebd.). Nach RawlsRawls, John sind wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten nur ethisch zulässig, wenn alle gleich Begabten und Motivierten die gleichen Chancen auf den Erwerb höherer sozialer und wirtschaftlicher Positionen haben und alle anderen Gesellschaftsmitgliedern von den mit solchen Positionen verbundenen Vorteilen profitieren können (vgl. 81; 122f.). Durch ein gesellschaftliches Institutionensystem und geeignete Maßnahmen wie Besteuerungen soll dafür gesorgt werden, dass dank des gestiegenen Wirtschaftswachstums den am wenigsten Begünstigten mehr Güter zugeteilt werden können.
Gerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“EgalitarismusKritisiert wird an RawlsRawls, John sozialem Egalitarismus die unzureichende ChancengerechtigkeitChancengerechtigkeit, s. Chancengleichheit bzw. ChancengleichheitChancengleichheit, also Gleichheit an effektiven Chancen zum Erwerb sozialer und wirtschaftlicher Güter und Positionen. Dabei ist aber zwischen einer formalen und einer materiellen Chancengleichheit zu unterscheiden (vgl. Meyer, 164.): Die durch eine rechtliche Ausgestaltung gesellschaftlicher Institutionen zu gewährleistende formale ChancengleichheitChancengleichheitformale liegt bereits dann vor, wenn sich die Kriterien der Vergabe von Positionen sinnvoll aus dem jeweiligen Aufgabenbereich einer Institution ergeben und ohne jede Diskriminierung allein die Qualifikation der Bewerber ausschlaggebend ist. Eine solche formale Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit ist in RawlsRawls, John Gerechtigkeitsmodell gewährleistet, weil die Menschen relativ zu ihren individuellen Begabungen die gleichen Zugangschancen zum Erwerb gesellschaftlicher Güter und Positionen erhalten sollen (vgl. RawlsRawls, John, 81). Materielle ChancengleichheitChancengleichheitmaterielle erfordert jedoch zusätzlich eine Gleichheit der Startbedingungen, die sich auch auf ungleiche natürliche Ausstattungen und auf unterschiedliche, für die Entwicklung der Bedürfnisstruktur und Persönlichkeit der Heranwachsenden bedeutsame Umstände erstrecken. Es werden dann nicht lediglich gleiche Chancen für gleich begabte Individuen gefordert, sondern gleiche Chancen für alle Individuen. RawlsRawls, John begrüßt zwar im Sinne einer materiellen Chancengleichheit umfassende Gerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“sozialeSozialprogramme wie etwa öffentliche Bildungseinrichtungen zum Abbau sozialer Benachteiligungen. Gemäß seinem „Differenzprinzip“ sind aber Vorteile durch unverdient bessere Startbedingungen nicht ungerecht, sofern sich die langfristigen Aussichten der am schlechtesten Gestellten dadurch verbessern (vgl. 122f.). Es ist jedoch fraglich, wie das gestiegene Wirtschaftswachstum oder verbesserte Dienstleistungen etwa im Gesundheitsbereich tatsächlich den am schlechtesten Gestellten zugutekommen und Chancengleichheit auf sozialen Aufstieg der Lebensaussichten schaffen sollen (vgl. Meyer, 365). Arbeitslose oder Menschen mit einer Behinderung sind auch dann benachteiligt, wenn sie gleich viel Einkommen und Besitz erhalten oder sich dank Innovationen der besonders geförderten Talentierten langfristig die Lebensbedingungen zukünftiger Generation ihres Gesellschaftssegments verbessern sollten. Während bei RawlsRawls, John nur unverdiente Nachteile sozialer Herkunft beseitigt werden, könnten in Zukunft durch immer bessere Enhancement-Verfahren zusätzlich unverschuldete natürliche Defizite an physischen oder psychischen Fähigkeiten und Talenten angeglichen und so noch weitergehende materielle ChancengleichheitChancengleichheitmaterielle erzielt werden (Kap. 4.4).
3) Wohlergehens-Egalitarismus: Gleichheit an Wohlergehen / Chancen auf gutes Leben
Gerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“EgalitarismusAn RawlsRawls, John sozialem Verteilungsegalitarismus wurde ganz grundsätzlich immer wieder kritisiert, dieses Gerechtigkeitskonzept sei zu einseitig auf die Verteilung von materiellen und sozialen Grundgütern fokussiert (vgl. dazu Hinsch 2016, 80f./Mazouz, 374). Gerechtigkeit dürfe aber nicht ausschließlich an der Menge der zur Verfügung stehenden Güter bemessen werden, da aufgrund der großen Verschiedenheit der Menschen mit ihren individuellen Voraussetzungen, Bedürfnissen und Lebensplänen ein Mehr an Gütern nicht zwangsläufig für jeden eine Verbesserung darstelle (vgl. SenSen, Amartya, 365f.). Irrtümlich gerate dann aus dem Blick, dass Menschen mit einer unverschuldeten schwächlichen physischen oder psychischen Konstitution und wenig Talenten oder ihrer Herkunft aus bildungsfernem Elternhaus nicht den gleichen Nutzen aus der gleichen Menge an gesellschaftlichen Gütern ziehen können. Veranschaulichen lässt sich dies am Beispiel eines Menschen mit schwerer Behinderung, bei dem die Gleichheit an Bewegungsfähigkeit unter Umständen ein ganz unterschiedliches Maß an Gütern verlangt. Zudem bedeutet die Gleichheit an Einkommen und Besitz noch lange keine Gleichheit an Lebensaussichten oder Wohlergehen. Amartya SenSen, Amartya und Martha NussbaumNussbaum, Martha haben mit ihrem Fähigkeiten-Ansatz („capabilities approach“) eine Alternative zu RawlsRawls, John Grundgüteransatz entwickelt, der den erheblichen Unterschieden in den natürlichen individuellen Anlagen und Fähigkeiten der Menschen sowie ihrer verschiedenen sozialen und kulturellen Situation Rechnung trägt (vgl. ebd., 367f.): Maßgebliche Hinsicht der Gleichverteilung sollen nicht elementare Güter sein, sondern die realen Entfaltungsmöglichkeiten grundlegender menschlicher Fähigkeiten („capabilities“). Denn niemand schätze Einkommen und Besitz um ihrer selbst willen, sondern nur mit Blick auf sinnvolle Tätigkeiten oder Funktionen, zu denen sie befähigen. Dabei gelten beim Fähigkeiten-Ansatz nur diejenigen Fähigkeiten als ethisch relevant, die für ein gutes menschliches Leben und menschliches Wohlergehen wichtig sind (vgl. NussbaumNussbaum, Martha, 200f.). Der Fähigkeiten-Ansatz rückt damit in die Nähe des Wohlfahrts-Egalitarismus („welfare-Egalitarianism“) oder Wohlergehens-EgalitarismusEgalitarismusWohlergehens- („welfare“-, demzufolge in Abgrenzung von einem Güter- oder Ressourcen-Egalitarismus die Gleichheit am Grad des persönlichen Wohlergehens bemessen werden soll (vgl. dazu Hinsch 2016, 80/Meyer, 166). Es liegt dann ein ergebnisorientiertes Gleichheitsideal vor, bei dem es auf den tatsächlich aus bestimmten Gütern gezogenen Nutzen bzw. das Wohlergehen ankommt. Damit wird der Bezugspunkt der Chancengleichheit auf die allgemeine Dimension menschlichen Wohlergehens oder wesentlicher menschlicher Fähigkeit für ein gutes Leben ausgeweitet.
Gerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“EgalitarismusSolche „equality of welfare“-Ansätze