der Abwanderung auf Menschen und Strukturen in den Ausgangsräumen.
Eine besondere Herausforderung von migrationshistorischen Darstellungen lautet, diese Fragen in dem jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext zu beantworten. Zur Zeit der Salzburger Exulanten bedeutete dieser Kontext: Ständegesellschaft, ein vormoderner Staat, nicht vorhandene Rechtsgleichheit, fehlende universelle Menschen- und Freiheitsrechte; heute bedeutet er: Rechtsgleichheit, Menschenrechte und starke, im Sinne einer Staatsverfassung wirkende staatliche Institutionen.
Zu diesem Buch
Im Mittelpunkt dieser Einführung steht die Untersuchung von Wanderungsbewegungen in der Zeit zwischen 1500 und 1800 mit dem geografischen Schwerpunkt des Territoriums des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation mit seinen benachbarten Gebieten. Dieser Zugang erscheint aus zwei Gründen sinnvoll: Erstens waren die Reichsterritorien in der Frühen Neuzeit durch zahlreiche dynastische, politische und ökonomische Verflechtungen sowie kulturelle Netzwerke mit ihren Nachbarn eng verbunden, die vielfältige und mehrere Jahrhunderte lang währende migratorische Beziehungen hervorbrachten. Das Alte Reich bildete zudem einen in alle Richtungen offenen Migrationsraum. Dort waren Wanderungsbewegungen Teil der europäischen und gerade in der Frühen Neuzeit allmählich globale Ausmaße annehmenden Migrationen, auch wenn die einzelnen Regionen unterschiedlich stark in diese Migrationsprozesse eingebunden waren. Zweitens erscheint die geografische Begrenzung auch deshalb sinnvoll, weil einzelne europäische Großregionen aufgrund ihrer unterschiedlichen Wirtschafts- und Sozialstrukturen signifikante Unterschiede in ihren Migrationsbewegungen aufweisen.
Die Einführung verfolgt das doppelte Ziel, Fragen, Forschungsansätze und Theorien der historisch ausgerichteten Migrationsforschung an ausgewählten Migrationsereignissen zu exemplifizieren, um so zugleich einen Überblick über die frühneuzeitlichen Wanderungsbewegungen zu bieten. Nach der Vorstellung der wichtigsten Forschungsansätze und -theorien der Migrationsforschung in Kapitel 1 werden in Kapitel 2 die neuen Rahmenbedingungen der Migrationen und Mobilitätsformen im 16. Jahrhundert dargestellt. In Kapitel 3 wird die Bevölkerung als eine zentrale Kategorie des im 16. Jahrhundert beginnenden staatstheoretischen und ökonomischen Denkens herausgearbeitet, worauf die in Kapitel 4 dargestellten Methoden und Praktiken der obrigkeitlichen Migrationssteuerung basierten. In den Kapiteln 5 bis 10 wird den spezifischen Triebkräften, Formen und Folgen von Migrationen sowie den Handlungsmöglichkeiten und Strategien der Migranten nachgespürt, bevor in Kapitel 11 Aspekte der Integration behandelt werden.
[1] https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/03/Genfer_Fluechtlingskonvention_und_New_Yorker_Protokoll.pdf (23.07.2019).
[2]Bade, K. J., Historische Migrationsforschung, in: IMIS-Beiträge 2002, H. 20, S. 21.
[3]Hahn, S., „Es gab noch nie so viel Migration wie heute (früher waren die meisten Menschen sesshaft)“, in: M. Haller (Hg.), Migration und Integration. Fakten oder Mythen?, Wien 2019, S. 39 f.
[4]Schmoller, G., Der moderne Verkehr im Verhältnis zum wirtschaftlichen, socialen und sittlichen Fortschritt, hier zit. nach Hahn wie (Anm. 3), S. 40.
[5]Oltmer, J., Migration, in: J. Dülffer u. W. Loth (Hg.), Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012, S. 253.
1. Begriffe, Theorien und Typologien
1.1 Der Migrationsbegriff im Wandel der Zeit
Sucht man nach dem heute allgemein verbreiteten Wort und Begriff „Migration“ in der Vormoderne, so entpuppt sich dieses Vorhaben als keineswegs einfach. Einer der Gründe dafür ist im historischen Wandel des Begriffs selbst zu suchen.
In den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen lateinischen Schriften fehlte das Wort migratioim Sinne einer räumlichen Bewegung. Dagegen stand vagatio in der Bedeutung von Herumschweifen, womit das „fahrende Volk“ und Bettler am Rande der Gesellschaft gemeint waren. Das Wort peregrinatio wiederum bezeichnete sowohl den inneren Lebensweg des Menschen als auch die konkrete Pilgerschaft zu heiligen Orten und zu Orten der Wissenschaft mit dem Ziel des Studiums in der Fremde. Wie das von Johann Heinrich Zedler redigierte und zwischen 1732 und 1754 herausgegebene Universallexikon, das wichtigste Nachschlagewerk des deutschen Sprachraums während der Aufklärungszeit, belegt, wurde migratiosehr lange in der aus dem römischen Recht übernommenen Bedeutung des Auszugs aus einem Pacht- und Mietverhältnis verwendet.[6] Das Wort „Wanderung“ wurde im Lexikon unter dem Lemma „Reisen“ als Synonym aufgeführt, das das Bereisen fremder Orte aus unterschiedlichen Gründen – von Neugier bis zum Erwerb neuer Kenntnisse – bezeichnete. Lediglich im Zusammenhang mit dem Eintrag „Zug“ tauchte die spätantike Völkerwanderung auf. Auch im „Grammatisch-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart“ von Ernst Johann Christoph Adelung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war „Wanderung“ in der Bedeutung der Völkerwanderung aufgeführt.[7] Die im Wörterbuch erfassten Verben „auswandern“, „einwandern“ und „fortwandern“ stellten wiederum zwei für die Zeit typische Formen der Migration in den Vordergrund: die Walz der Gesellen und die grenzüberschreitende Wanderung der Untertanen.
Bis heute gibt es keine kohärente Definition von Migration. Zwar wurde der Begriff als Entlehnung der angelsächsischen Forschung im Zuge der Etablierung einer modernen Migrationsforschung gebräuchlich, doch wird unter Migration im engeren Sinne häufig nur der dauerhafte Wohnortwechsel, also die grenzüberschreitende Aus- und Einwanderung verstanden. Im weitesten Sinne subsumiert man dagegen unter Migration jeden ständigen und vorübergehenden Wechsel des Wohnsitzes wie etwa das Pendeln zur Arbeit und Ausbildung oder die saisonale Arbeitswanderung.
In Anbetracht der Vielschichtigkeit der Bedeutung und der Vielfalt der Formen erscheint der von der Soziologie angewandte Doppelbegriff „Mobilität und Migration“ als eine sinnvolle Überbrückung der Definitionsdefizite. In der Soziologie wird zwischen horizontaler, d. h. räumlicher, und vertikaler, also sozialer Mobilität unterschieden. Unter räumlicher Mobilität versteht man jede Bewegung im Raum, während Migration im Sinne der dauerhaften Verlegung des Lebensmittelpunktes als ein Sonderfall der Mobilität gilt. Jochen Oltmer hat, diese soziologische Definition aufgreifend, Migration für die historische Forschung konkretisiert und wie folgt beschrieben:
Migrationen sind Formen der Mobilität, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden haben und aus denen sozialer Wandel resultiert. Migration kann das Überschreiten politisch-territorialer Grenzen bedeuten. Aber auch räumliche Bewegungen innerhalb eines staatlichen Gebildes lassen sich als Migration fassen; denn auch sie können es erfordern, dass Migrantinnen und Migranten sich mit wirtschaftlichen Gegebenheiten und Ordnungen, kulturellen Mustern sowie gesellschaftlichen Normen und Strukturen auseinandersetzen, die sich zum Teil erheblich von denen des Herkunftsortes unterscheiden.[8]
1.2 Erklärungsmodelle, Forschungsansätze und Theorien
Die Zeiten des obrigkeitlichen Beobachtens und Beschreibens von Wanderungsbewegungen wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr durch das wissenschaftliche Interesse an Ursachen und Formen der Migration abgelöst. Ein Anstoß hierzu ging von den staatlichen Bestrebungen aus, zunehmende Wanderungsbewegungen besser zu verstehen, um diese zugleich im Dienst der eigenen ökonomischen und nationalen