1875 im topografisch-statistischen Amt des britischen Kriegsministeriums in London tätig, formulierte 1885 die These, dass sich Wanderungen zwischen Migranten abgebenden und Migranten aufnehmenden Regionen abspielen und bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegen.[9] Diese fasste er in sieben Beobachtungen zusammen:
1.
Die Mehrheit der Wanderer legt nur eine kurze Entfernung zurück.
2.
Migration erfolgt in Etappen, und jede Etappe führt den Wanderer in Richtung eines Gravitationszentrums. Landbewohner ziehen demzufolge in die nächstgelegene Stadt mit einem schnellen ökonomischen Wachstum. An die Stelle jedes Abwanderers rückt zugleich ein Zuwanderer, wobei Migration – analog zu den Gravitationsgesetzen – mit zunehmender Distanz vom Herkunftsort abnimmt.
3.
Ab- und Zuwanderungen weisen ähnliche Charakteristika auf.
4.
Jeder Migrationsstrom wird durch eine Gegenströmung kompensiert.
5.
Wanderer, die weite Entfernungen zurücklegen, wenden sich in der Regel den sich dynamisch entwickelnden Industriezentren zu.
6.
Bewohner der Städte wandern weniger als die Landbevölkerung.
7.
Frauen sind unter den Kurzstreckenmigranten häufiger zu finden als Männer.
Aufgrund dieser Gesetzmäßigkeiten machte Ravenstein fünf Migrantengruppen aus, die von ihm als regionale Migranten, Kurz- und Langstreckenmigranten, Etappenmigranten und temporäre bzw. saisonale Migranten typologisiert wurden. Die Frage, warum Menschen von ihrem Herkunftsort an einen anderen Ort wandern, beantwortete er im Fall der Binnenmigration mit der Hoffnung der Menschen auf einträgliche Arbeit in Gebieten mit besser entwickelten Ressourcen. Im Fall der grenzüberschreitenden Abwanderung beantwortete er dies dagegen mit der Überbevölkerung, welche die Wanderer in der Hoffnung auf eine einträgliche Arbeit in Gebiete mit unterentwickelten Ressourcen führt.
Ravenstein gab mit seinem zweipoligen Gravitationsmodell zwischen Ab- und Zuwanderung grundlegende Impulse für die sich allmählich etablierende Wanderungsforschung, die seitdem versucht, Ausmaße, Richtungen, Ursachen und Folgen von Wanderungen mithilfe von allgemein gültigen Modellen und Theorien zu beschreiben und zu begründen. Rekurrierend auf das Ravenstein’sche Modell ging die Forschung lange von der Annahme aus, dass Wanderungen durch die Diskrepanz zwischen negativen Push-Faktoren in der Herkunftsregion und positiven Pull-Faktoren in der Zielregion ausgelöst werden. Doch trotz der zweifelsohne vorhandenen Abstoßungs- und Anziehungsfaktoren weisen die Wanderungsursachen eine überaus große Variabilität auf, sodass das Push- und Pull-Modell als Erklärung heute als nicht ausreichend bewertet wird.
Die Migrationstheorien der Gegenwart stellen Phänomene wie ökonomische und gesellschaftliche Asymmetrie, soziale Netzwerke oder individuelle Lebensplanung in den Vordergrund. Allerdings geben auch die neuen Erklärungsversuche keine befriedigenden Antworten auf die Frage, warum manche Menschen migrieren, andere aber wiederum nicht. Ein alles erklärendes Modell der Wanderungen gibt es nicht und wird es auch in der Zukunft nicht geben: Denn Migration stellt einen komplexen sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Prozess dar, in dem Raum, Zeit und Mensch als variable Faktoren eine gleich wichtige Rolle spielen, auch wenn am Ende der Überlegungen für oder gegen die Wanderung die individuellen Faktoren ausschlaggebend zu sein scheinen. Denn schlussendlich ist das Individuum selbst, das sich dafür oder dagegen entscheidet. Eine Ausnahme hierbei stellt nur die Zwangsmigration dar. Die aus religiösen, ethnischen, sozialen oder politischen Ursachen durchgeführten Vertreibungen und Deportationen wie auch die ökologischen Katastrophen lassen den Betroffenen in der Regel keine oder nur sehr begrenzt eine Wahl zwischen Bleiben und Abwandern.
Außer der Komplexität des Migrationsprozesses scheint ein weiteres, wissenschaftsimmanentes Hindernis für die Generalisierbarkeit von Aussagen über Migration eine Rolle zu spielen. Migrationstheorien haben sich in den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen – so etwa in der Demografie, Geografie, Ethnologie, der Wirtschafts-, Rechts-, Politik-, Geschichts- oder Erziehungswissenschaft – entwickelt, und die einzelnen Disziplinen haben zur Erforschung von Migrationsbewegungen eigene Teilbereiche hervorgebracht: u. a. die Migrationssoziologie, Migrationsgeografie, die Migrationslinguistik, Migrationspädagogik oder die Historische Migrationsforschung. Alle Teildisziplinen fragen zwar grundsätzlich nach den drei Hauptthemenfeldern der Migration: den Ursachen der Wanderungen, dem Wanderungsgeschehen und den Folgen der Wanderungen. Gemeinsam ist den Teildisziplinen auch, dass sie ihre Beobachtungen auf der makro-, der meso- und der mikroanalytischen Ebene durchführen. Dennoch kann von der Migrationsforschung als einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin nicht gesprochen werden, da sämtliche Teildisziplinen mit Fragestellungen und methodischen Zugriffen ihrer eigenen Disziplin an die Erforschung der Wanderungsprozesse herangehen. Aufgrund dieser mehrfachen disziplinären Verankerung nimmt die Migrationsforschung die Stellung einer Diagonalen in der Forschung ein, wodurch sie nach Michael Bommes als ein „multi- und interdisziplinäres Konglomerat an Forschungen“ zu definieren ist.[10]
Zur Migration gibt es heute eine kaum mehr überschaubare internationale und interdisziplinäre Forschungsdiskussion. Trotz aller Unterschiede ist diesen zahlreichen theoretischen Ansätzen gemeinsam, dass sie nur bestimmte Teilaspekte des Migrationsgeschehens, so die Migrationsursachen, die Auswirkungen der Migration oder Fragen der Integration, ins Visier nehmen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Forschungsansätze zu diesen drei Teilaspekten im Überblick skizziert werden.
Bereiche der Wirtschaftswissenschaft und der Soziologie setzten sich mit Migrationsphänomenen schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kontinuierlich auseinander und haben sich nicht nur wechselseitig, sondern auch die Beschäftigung anderer Disziplinen mit der Migration, darunter die Geschichtswissenschaft, stark beeinflusst. Infolge der Ausweitung der internationalen Migration in den 1960er-Jahren widmeten sich vor allem Vertreter der klassischen und neoklassischen Ökonomie und der Wirtschaftssoziologie den Ursachen und Folgen von Wanderungsbewegungen. Zurückgreifend auf das Push-Pull-Modell von Ravenstein erklärten Everett S. Lee [11] und Michael P. Todaro [12] Wanderungen als Ergebnis der Differenz zwischen Nachfrage und Angebot der Arbeitskräfte in den einzelnen Ländern und der zwischen den einzelnen Ländern bestehenden Lohndisparität. Todaro führte die Überlegungen in seiner Wert-Erwartungstheorie fort, wonach Abwanderungswillige diejenige Alternative wählen, die sie mit dem größten Nutzen, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit dessen Eintretens, verbinden.[13] George J. Borjas wies wiederum darauf hin, dass trotz der real bestehenden Lohndiskrepanz zwischen Abwanderungs- und Zuwanderungsgebiet und trotz des erwarteten Mehrwerts in der Ferne nur bestimmte Personen abwandern.[14] Die Ursache dafür erkannte er in den selektiven Merkmalen der Menschen wie z. B. Alter, Beruf oder Familienstand.
Kritisiert wurden diese mikroökonomischen Ansätze vor allem deshalb, weil sie den Migranten einseitig als homo oeconomicus in den Mittelpunkt stellten und die Wanderungsentscheidung auf eine individuelle Nutzenbilanzierung zurückführten. Neue Ansätze versuchten dagegen die Migrationsentscheidung in gesellschaftliche Strukturen, soziale Beziehungen oder ökonomische Verflechtungen einzubinden. So rückte Michael J. Piore mit seiner Segmentationstheorie die Vorstellung in den Mittelpunkt, dass Arbeitsplätze je nach Tätigkeit den Beschäftigten Prestige und Status verleihen.[15] Der Arbeitsmarkt in den Industriegesellschaften ist einerseits in qualifizierte und gut bezahlte, andererseits in unqualifizierte und schlecht entlohnte Arbeitsplätze geteilt. Da einheimische Arbeitskräfte die schlecht bezahlten und wenig angesehenen Arbeitsplätze in der Regel vermeiden, ist man bei deren Besetzung auf die Anwerbung von solchen Immigranten angewiesen, die bereit sind, diese Stellen anzunehmen, die sie zu Hause nie akzeptieren würden.
Andere systemisch-strukturelle Migrationstheorien wie u. a. von Oded Stark bestimmten dagegen die privaten Haushalte als Motor der Migration.[16] Die Wanderungsentscheidung findet demnach innerhalb der Haushalte als gemeinsamer Entschluss statt. Nicht der individuelle Nutzen des Einzelnen, sondern die kollektive Nutzenmaximierung des Haushaltes steht im Vordergrund. Familienmitglieder, die an der Arbeitsmigration beteiligt