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in deren Politik diskreditiert. Nicht förderlich für die Etablierung einer auf die vormoderne Zeit ausgerichteten Migrationsforschung war auch die Tatsache, dass die Geschichtswissenschaft ab den 1960er-Jahren mit der Hinwendung zur Modernisierungstheorie vor allem die Zeit der Hochindustrialisierung in den Vordergrund stellte und davon ausging, dass Wanderungsbewegungen in vormodernen Gesellschaften nur sehr gering ausgeprägt waren.

      Heute zeichnet sich die Historische Migrationsforschung durch eine methodische und konzeptionelle Vielfalt aus und hat sich zu einer inter- und transdisziplinären Forschungsrichtung entwickelt. Mit dem Konzept des Migrationsregimes, das von Jochen Oltmer ausformuliert wurde, liegt auch ein Konzept zur Erforschung von Migrationsbewegungen vor, welches es ermöglicht, Prozesse und Strukturen epochenübergreifend zu untersuchen. Allerdings steht das Einlösen dieses Vorhabens noch weitgehend aus.

      1.4 Die Typologie der Migration

      Kategorisierungen und Typologisierungen sind Konstruktionen, mit deren Hilfe die Vielzahl der Migrationsformen überschaubar gemacht werden kann. Von den zahlreichen Kriterien, wonach Migrationsbewegungen unterschieden werden können, sollen hier lediglich drei grundlegende Kriterien, nämlich das zeitliche, räumliche und kausale, vorgestellt werden.

      Betrachtet man den zeitlichen Aspekt, wie etwa Dauer und Verlauf von Migration, so ist zwischen dauerhaften Aus- und Abwanderungen einerseits und saisonalen und mehrjährigen Wanderungen andererseits zu unterscheiden. Im ersten Fall hat man es mit einem endgültigen Wechsel des Lebensmittelpunktes zu tun, im zweiten Fall handelt es sich um eine Migration, bei der der Wechsel des Lebensmittelpunktes nur für eine bestimmte Dauer entweder einmalig oder in sich regelmäßig wiederholenden zeitlichen Abständen erfolgt. Zählten in der Frühen Neuzeit zu der ersten Gruppe etwa die Amerika-Auswanderer, so gehörten deutsche Studenten an ausländischen Universitäten oder Wanderhändler beispielsweise aus Savoyen in Süddeutschland zur zweiten Gruppe.

      Unter dem räumlichen Aspekt kann Migration als Nah- oder Fernwanderung typologisiert werden. Dabei wurden in der Frühen Neuzeit Verwaltungs-, Herrschafts- oder Territorialgrenzen passiert und sogar kontinentale Grenzen überschritten. Unterscheiden kann man auch nach der Bewegungsrichtung der Migranten, und zwar zwischen einer unidirektionalen, einer etappenweise erfolgten Wanderung mit Zwischenaufenthalten, einer zirkulären Wanderung und schließlich der Rückwanderung. Für den ersten Fall stehen etwa Siedlungsmigranten in Brandenburg-Preußen, für den zweiten jene Hugenotten, die zunächst in die Schweiz flüchteten und von dort in einen der deutschen Territorialstaaten weiterwanderten. Für die zirkuläre Wanderung mit mehr oder minder regelmäßigem Wechsel zwischen zwei Räumen können exemplarisch jene Saisonarbeiter aus Westfalen genannt werden, die jedes Jahr in die Niederlande als Torfstecher oder Grasmäher zogen. Dagegen sind für die Rückwanderer all jene Auswanderer zu nennen, die von den Verhältnissen in der Ferne enttäuscht in die alte Heimat zurückkehrten.

      Fragt man nach den Hintergründen und Motiven von Wanderungen, so sind wiederum zwei Formen auszumachen: die unfreiwilligen und die freiwilligen. Im Fall der unfreiwilligen Migration spielt Gewalt, die als eine durch Gesellschaft und Herrschaft historisch und kulturell variable Form körperlicher oder psychischer Aggression zu definieren ist, die zentrale Rolle. Verbunden mit der Migration manifestierte sich Gewalt im Verlauf der Geschichte in Form von Deportation, Vertreibung, Ausweisung, Abschiebung oder Zwangsumsiedlung. Flucht und Exil waren Reaktionen auf die drohende bzw. reale Gewalt. In der Frühen Neuzeit reichte die Bandbreite der Zwangsmigration von der Verschleppung und Versklavung von Millionen von Afrikanern über die Vertreibung von nicht staatskonformen religiösen Gruppen oder die Ausweisung von nicht den gesellschaftlichen Normen entsprechend handelnden Bürgern bis hin zur Abschiebung von unerwünschten Bettlern, Armen und Vaganten. War die Zwangsmigration im Fall der Sklaven mit dem Hauptziel verbunden, die eigenen ökonomischen Ressourcen zu erweitern und die Versklavten als billige Arbeitskraft einzusetzen, so wurden die Vertreibung und Abschiebung von Einzelpersonen und Gruppen aus dem eigenen Untertanenverband als Strafe für die Betroffenen, aber auch als Abschreckung der Gebliebenen angewandt. Wurden als Ketzer und Häretiker diffamierte Andersgläubige wie etwa Protestanten in katholischen Ländern als Hindernis bei der Durchsetzung der konfessionellen Homogenisierung des frühneuzeitlichen Staates betrachtet und deshalb vertrieben, so war im Fall von fremden Bettlern und Vaganten wiederum ihre nicht-sesshafte Lebensform der Grund für ihre Abschiebung.

      Eine große Vielfalt ist auch den freiwilligen Wanderungen zu eigen, die aus der Erwartung des Migranten auf eine neue Lebenschance oder die Verbesserung seiner Lebenslage oder wenigstens deren Aufrechterhaltung erfolgen. Die Erwartungen können wirtschaftlich, sozial, politisch, religiös oder persönlich motiviert sein; nicht selten treten mehrere Motive gleichzeitig und miteinander eng verflochten auf. Wirtschaftlich und sozial motivierte Wanderungen, die man zusammenfassend auch als markt- und lebensweltbedingte Migrationen bezeichnen kann, wurden auch in der altständischen Gesellschaft einerseits durch Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften bzw. Berufsanforderungen des merkantilistischen Marktes, andererseits durch spezifische Lebenserwartungen der Menschen ausgelöst. Die Formen reichen von der Wanderung von Experten mit Spezialkenntnissen über saisonale Wanderarbeit, Gesindedienst leistende Knechte und Mägde bis hin zur Heiratswanderung. Zu den freiwilligen Wanderungen sind auch die Einwanderungen aus dem ländlichen Bereich in die Städte oder die staatlich gelenkten und mit Privilegien geförderten Siedlungsmigrationen zu zählen. Auch ausbildungsbedingte Migrationen gehören dazu, so etwa die Migration von Studenten oder jungen Adeligen auf Kavalierstour.

      Wie fließend allerdings die Grenzen zwischen den einzelnen Wanderungsformen waren, zeigt das Beispiel der Hugenotten. Anders als etwa die Lutheraner im Kirchenstaat Salzburg, die aufgrund eines Ausweisungserlasses von 1731 ihre Heimat verlassen mussten, wurden die Calvinisten aus Frankreich nicht ausgewiesen. Das königliche Edikt von Fontainebleau von 1685 verbot sogar den Hugenotten die Auswanderung bei gleichzeitiger Zusicherung des Bleibe- und Besitzrechts, wenn sie darauf verzichteten, ihre Konfession auszuüben. Damit gerieten ihrem Glauben treue Hugenotten in eine Zwangslage, weshalb viele von ihnen Frankreich fluchtartig verließen, während andere den Glaubenswechsel oder ein Leben im Untergrund wählten.

      Ebenso fließend konnten die Grenzen bei Wanderungen sein, die infolge von Kriegen, Epidemien oder Naturkatastrophen ausgelöst wurden, denn die Menschen auf der Flucht wählten in der Ferne häufig die dauerhafte Ansiedlung und kehrten nach Normalisierung der Verhältnisse in ihren Heimatregionen nicht wieder zurück. Selbst zu Friedenszeiten praktizierte Migrationsformen konnten einen gewissen Zwangscharakter tragen. Oft ließen sich beispielsweise von ihren Zünften zur Walz verpflichtete Handwerksgesellen während ihrer Wanderschaft in einem der aufgesuchten Orte nieder, der für sie anders als ihr Heimatort sichere Arbeits- und Niederlassungsbedingungen eröffnete. So wurden aus den temporären Migranten Auswanderer.