Sieglind Ellger-Rüttgardt

Geschichte der Sonderpädagogik


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7.1 Keine „Stunde Null“

       7.2 Restauration, Wiederaufbau und Reform der Sonderpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland

       7.3 Sonder- und Rehabilitationspädagogik in der sowjetisch besetzten Zone und in der DDR

       7.4 Vergleichende Perspektiven und Desiderata

       8 Ausblick: Erfolge, Niederlagen, Gefährdungen

       Anhang

       Anmerkungen

       Literatur

       1 Quellen

       2 Darstellungen

       Bildquellennachweis

       Verzeichnis der Abkürzungen

       Verzeichnis der Archive

       Zeittafel

       Namenregister

      Zur schnelleren Orientierung werden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:

      image Begriffserklärung, Definition

      image Pro und Contra, Kritik

      image Beispiel

      „Was in den Rahmen der Normalität, den die Anlage, die Sitte, das Vorurteil und das Urtheil gebildet haben, nicht hineinpasst, wird von der Gesellschaft überall, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, ausgeschlossen, bei Seite geschoben, verdeckt. Ebenso verfahren die Erziehung und die Heilpraxis, welche an sich die Aufgabe haben, die Abnormitäten und Deformitäten, die sich vorfinden, so weit es möglich ist, zu überwinden und die Normalität herzustellen.“

      Jan Daniel Georgens/Heinrich Marianus Deinhardt: „Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten“. Erster Band. Leipzig 1861, 301

      Eine Einführung in die Geschichte der Sonderpädagogik ist ein schwieriges Unterfangen, denn es lauern viele Gefahren. Der Leser und die Leserin könnten beispielsweise durch den Titel verführt werden anzunehmen, sie würden das Wichtigste aus der Geschichte erfahren, Geschichte sei gewissermaßen etwas Abgeschlossenes, Überschaubares, das sich mühelos aufrufen und berichten ließe. Aber weit gefehlt! Es gibt nicht die Geschichte, sondern wir können immer nur Ausschnitte vergangener Wirklichkeit in unser Gedächtnis zurückholen und wir vermögen Vergangenheit nicht objektiv nachzuzeichnen, sondern nur unter dem Aspekt gegenwärtiger Bedeutsamkeit auszuwählen – insofern gibt es keine objektive Geschichte.

      Als die 1. Auflage dieses Buches 2008 erschien, hatte Deutschland gerade ein Jahr zuvor die Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Dieser Zeitraum von gut einem Jahrzehnt ist im Hinblick auf eine mehr als 250- jährige Geschichte der Sonderpädagogik wenig relevant, sehr wohl aber im Hinblick auf die Perspektive, aus der wir Geschichte betrachten. Inklusion und Exklusion sind die großen Leitkategorien der Gegenwart, die die Debatte um Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung seitdem bestimmen, und sie bleiben nicht ohne Wirkung auf unsere historische Betrachtungsweise.

      Geschichte ist sehr wohl eine Wissenschaft, sie folgt empirisch-hermeneutischen Verfahren, sie muss ihr Erkenntnisinteresse offenlegen und genaue Quellenkritik betreiben. Einführungen wollen gerne die wesentlichen, sicheren Tatbestände einer Disziplin vermitteln – ein Vorgehen, das für eine Einführung in die Geschichte so nicht leistbar ist, denn sie kann nicht anders verfahren, als begründet auszuwählen. Was könnte demnach eine Einführung in die Geschichte der Sonderpädagogik leisten? Ich meine, sie sollte

      ➥ Verständnis anbahnen für historisches Denken,

      ➥ Kenntnisse vermitteln im Hinblick auf Fragen und Probleme, die in der Vergangenheit diskutiert wurden und die noch heute Relevanz besitzen,

      ➥ das Bedürfnis nach historischer Orientierung befriedigen und schließlich

      ➥ die Fähigkeit erzeugen, historische Entwicklungen zu erkennen und zu verstehen.

      Das Buch möchte ein Gefühl für historisch Gewachsenes, für lange Linien vermitteln, die die Erkenntnis anbahnen, dass keine Epoche ohne ihre Vorgänger verstehbar ist und dass alle historisch überlieferten Tatbestände nur in ihrem größeren Kontext einzuordnen und zu verstehen sind – stets eingedenk der Erkenntnis, dass wir es sehr oft mit Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten zu tun haben, die zu benennen, aber nicht „wegzuinterpretieren“ sind.

      Sollte es gelingen, bei Studierenden und anderen neugierigen Menschen das Interesse für historische Phänomene in der Sonderpädagogik zu wecken, das Verständnis für geschichtliche Zusammenhänge anzubahnen und ein kritisches Bewusstsein hinsichtlich der Bedeutung von Historie für Entwicklungen und Probleme der Gegenwart zu schärfen, so wäre das Ziel dieser Einführung erreicht.

      Ich konnte nicht im gleichen Maße die Geschichte aller sonderpädagogischen Fachrichtungen berücksichtigen, auch hier galt es auszuwählen. Ich entschied mich für die frühen, zentralen Fachgebiete der Heilpädagogik, die Schwerpunkte Hören, Sehen, geistige Entwicklung und aufgrund ihrer besonderen Ausprägung in Deutschland sowie ihres quantitativen Gewichts für die „Hilfsschule“.

      Mein Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft: Sie hat das Projekt „Bildsamkeit und Behinderung. Die Erweiterung der Idee und Praxis der Bildsamkeit durch die ‚Entdeckung‘ der Bildbarkeit Behinderter“ im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit – Ansätze zu einer neuen ‚Geistesgeschichte‘“ über einen Zeitraum von sechs Jahren in großzügiger Weise gefördert.

      Für Anregungen, fruchtbare Gespräche, Unterstützung sowie kritische Rückmeldungen zur ersten Auflage danke ich: Lydia Abel, Ewald Bachmann, Thomas Barow, Ulrich Bleidick, Dietrich Ellger, Dietfried Gewalt, Dieter Gröschke, Gerhard Heese, Tobias Hensel, Ulrich Heimlich, Heribert Jussen, Gustav O. Kanter, Ferdinand Klein, Dominique Lerch, Andreas Möckel, Vera Moser, Christian Mürner, Christian Ritzi, Hanno Schmitt, Svetluse Solarová, Otto Speck, Christian Stöger, Norbert Störmer, Heinz-Elmar Tenorth, Monique Vial, Joachim Winkler.

      Hamburg und Berlin, im Sommer 2019

      Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt

      „Wissenschaft ist etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes.“ (Wilhelm von Humboldt, 1767–1835)

      „Der Verfolg der Wissenschaft scheint mir… besondere Tapferkeit zu erheischen. Sie handelt mit Wissen, gewonnen durch Zweifel… Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern.“

      (Bertolt Brecht 2018, 124f)

      Geschichte als Wissenschaft

      Der Ausspruch Wilhelm von Humboldts, dem Gründer der Berliner Universität, findet sich auf einer Tafel im oberen Foyer der Humboldt-Universität zu Berlin. Er repräsentiert ein Wissenschaftsverständnis der Geistes- und Sozialwissenschaften, das ungeachtet allen Strebens nach verallgemeinerungsfähiger Erkenntnis von der Überzeugung der grundsätzlichen Begrenztheit wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis geprägt ist. Diese Aussage gilt in hohem Maße für die Geschichte, denn sie lässt sich, so lehrt die Erfahrung, besonders leicht in den Dienst politisch-ideologischer Zwecke