und Differenziertheit.
Jeder Historiker weiß, dass der Fund nur einer einzigen neuen Quelle, d. h. eines Bruchteils vergangener Wirklichkeit, ein ganzes historisches Theoriegebäude einstürzen lassen kann. Der Versuch, Vergangenes darzustellen und zu interpretieren, kann demnach niemals abgeschlossen sein, da neue Quellen auftauchen können oder aber die Perspektive der Fragenden sich verändert. Die Anerkennung, dass es die Rekonstruktion einer vermeintlich objektiv vorgegebenen Geschichte nicht geben kann, verweist auf die Standortgebundenheit und Perspektivität jeder historischen Betrachtung. Die Notwendigkeit, historische Phänomene zu verstehen und zu interpretieren und damit in den jeweiligen historischen Kontext angemessen einzubetten, begegnet uns auch in der Sonderpädagogik stets aufs Neue. Lassen Sie mich zur Veranschaulichung zwei Beispiele anführen:
In der Zeitschrift für Heilpädagogik von 1982 findet sich im Heft 8 unter der Rubrik: „Historische Rückschau: Sonderpädagogik 1937“ der Abdruck eines Beitrages mit dem Titel: „Arbeit der blinden Hitlerjungen“, der in der Zeitschrift „Der Hitlerjunge“ von 1937 erschienen war. Die Redaktion der Zeitschrift für Heilpädagogik schrieb dazu einleitend:
„Der nachfolgende Bericht eines Hitlerjugend-Führers, der als hochgradig Sehbehinderter eine Blindenschule besuchte, erschien am 16. Oktober 1937 […] Die 45 Jahre alte Darstellung der Arbeit der blinden Hitlerjungen aus der Feder eines Betroffenen legt eindringlich Zeugnis ab von den speziellen Problemen einer Behindertengruppe während des nationalsozialistischen Regimes. Das seltene aufschlußreiche Dokument wurde der Zeitschrift für Heilpädagogik von der Museumsbücherei der Blindenschule in Berlin-Steglitz zur Verfügung gestellt […]“ (Forum „Sonderpädagogischer Alltag“, XXIII)
Der Abdruck dieses Beitrages erfuhr Kritik. So war die Rede von
„jener völligen Geschmacklosigkeit der Zeitschrift für Heilpädagogik […] wo als erstes Dokument aus der Nazizeit (nach immerhin 37 Jahren!) ausgerechnet eine Selbstbeweihräucherung der doch noch möglichen Arbeit von Blinden in der Hitlerjugend abgedruckt wird“ (Zeitschrift für Heilpädagogik, Heft 6, 1983, Nr. 34, IX).
Die Zeitschriftenredaktion bemerkte dazu:
„Offensichtlich ist der Kritiker nicht in der Lage, sich von überwertigen Projektionen freizuhalten. Für Schriftleitung und Vorstand des Verbandes jedenfalls muß nicht ständig deklamiert werden, daß sie sich auch 50 Jahre nach der ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten vom Sozialdarwinismus und von den verbrecherischen Maßnahmen der Eugenik und Euthanasie distanzieren […] Was den mitunter geäußerten Vorwurf angeht, die historische Aufarbeitung der Nazizeit wurde versäumt, so muß gefragt werden, warum die allseitigen Kritiker nicht das zuliefern, was sie selbst vermissen.“ (1983, IX)
Dieser Vorgang zeigt, dass mit dem Abdruck dieses Beitrages des blinden HJ-Jungen Paul Werner – ob nun geschickt oder nicht – ein neuralgischer Punkt im Selbstverständnis der Disziplin getroffen worden war, und zugleich macht er auf die Vernachlässigung von Geschichte in der Sonderpädagogik aufmerksam.
Das zweite Beispiel: Im Januar 1997 schrieb mir eine Frankfurter Sonderschullehrerin einen Brief und bat mich um fachlichen Rat hinsichtlich der Bewertung der geschichtlichen Vergangenheit des Namenspatrons ihrer Schule, des ehemaligen Frankfurter Stadtschulrats August Henze. Auch Henze war aufgrund seiner NS-Vergangenheit in die Kritik geraten. Ausgelöst wurde diesmal der Vorgang vom Landesverband des Verbandes Deutscher Sonderschulen in Hessen, der sich im Februar 1996 an das Kollegium der August-Henze-Schule gewandt hatte und darin u. a. schrieb:
„Über Gustav Lesemann und August Henze hörte man – wenn überhaupt – lange Zeit nur Positives. Seit die Geschichte des Hilfsschulwesens etwas näher und kritischer erforscht wird, erfährt das strahlende Bild deutlich braune Flecken […] Allerdings steht Lesemann mit seiner vehementen Unterstützung des NS-Eugenik-Programms im VdHD [Verband der Hilfsschulen Deutschlands, gegründet 1898; E.-R.] nicht alleine. Sein Freund und langjähriger Weggefährte August Henze hat sich ebenso unmißverständlich und schon vor 1933 für die Zwangssterilisierung der ‚Minderwertigen‘ und ‚Schwachsinnigen‘ ausgesprochen.“ (Vds-Landesverband Hessen 1996)
Die seit 1996 heftig geführte Debatte endete schließlich im Februar 1998 mit der Aufhebung des Namens August Henze für die Sprachheilschule in Frankfurt a. M.
historisches Interesse
Immer, wenn in der Gegenwart etwas fragwürdig, brüchig wird, stellt sich die Frage nach dem Warum, Woher – und damit nach Geschichte. Nicht zufällig nimmt seit dem Fall der Mauer jene Zahl von Büchern zu, die sich mit der deutschen Frage und damit der deutschen Geschichte befassen. Ein neu erwachendes historisches Interesse ist auch in der Heil- und Sonderpädagogik seit einiger Zeit erkennbar, und dieses wird verständlich vor dem Hintergrund einer allgemeinen Verunsicherung des Selbstverständnisses der deutschen Heil-, Sonder- oder Behindertenpädagogik.
Selbstverständnis Sonderpädagogik
Einstmals mit tonangebend in der Welt und damit Vorbild für viele andere Länder, befindet sich diese Spezialdisziplin der Pädagogik seit den 70er Jahren in einer zunehmenden Identitätskrise. Sie muss sich damit auseinandersetzen, dass in einer Vielzahl westlicher demokratischer Staaten das sozialpolitische und pädagogische Hilfe- und Fördersystem für Menschen mit Behinderung eine andere Richtung eingeschlagen hat als in Deutschland. Weg von der „Besonderung“ und Separierung hin zur „Normalisierung“ der Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderungen – so lässt sich diese Richtung schlagwortartig beschreiben.
Das Ziel ist stets überall identisch, nämlich ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Eingliederung zu erreichen – unterschiedlich sind allerdings die Wege dorthin: Während man in Deutschland, dem deutschsprachigen Raum und in Holland in der Vergangenheit auf ein hochspezialisiertes System von Sondereinrichtungen setzte, ging man in den skandinavischen und angelsächsischen, später auch den romanischen Ländern mehr und mehr den Weg der stärkeren Einbeziehung sonderpädagogischer Förderung in das allgemeine Schulwesen, bekannt unter dem Stichwort der Integration bzw. der Inklusion.
historische Hypothek
Als besondere Belastung erweist sich für die deutsche Diskussion, dass das System der „Behindertenhilfe“ und seine Akteure im „Dritten Reich“ in großen Teilen versagt haben, dass es eine jüngste historische Epoche in Deutschland gegeben hat, in der – entgegen allen traditionellen humanistischen Ansprüchen – Menschen mit Behinderungen in ihrer Existenz bedroht waren. Diese Hypothek war lange Zeit verdrängt – nicht zuletzt auch in der DDR. Und somit wirft die wiedergewonnene deutsche Einheit auch in der „Behindertenpädagogik“ die Frage nach der Geschichte neu auf. Gerade im Hinblick auf eine Neuformulierung behindertenpädagogischen Selbstverständnisses wird man nicht daran vorbeikommen, sich auch kritisch mit jenem deutschen Teilstaat auseinanderzusetzen, der von seinem Anspruch her als ein Anwalt von Menschen mit Schädigungen – so der Terminus – auftrat.
Geschichtliches Interesse in der Sonderpädagogik ist auch nicht verstehbar ohne eine Berücksichtigung des Wandels des Selbstverständnisses von Geschichte allgemein und von Erziehungsgeschichte im Besonderen. Geschichte ist nicht mehr wie zur Zeit des Historismus im 19. Jahrhundert vorrangig eine Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen (also politische Geschichte, Geschichte der großen Männer), sondern sie versteht sich zunehmend als kritische Sozialwissenschaft und damit als ein Instrument der Aufklärung und Deutung von Vergangenheit und Gegenwart.
„In Wahrheit hat es der Historiker nicht mit der Vergangenheit zu tun, sondern immer nur mit ihrer Interpretation […] Es gibt keine Wirklichkeit ohne ihre Repräsentation […] Historiker sind Anthropologen des Vergangenen. Sie versuchen, jenen Menschen, die in den Texten der Vergangenheit zu uns sprechen, eine Stimme zu verleihen und sie zu verstehen.“ (Baberowski 2005, 22)
Selbstverständnis Geschichte
Geschichte wird also nicht