Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere Aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Herrmann 2005, 99)
pädagogisches Jahrhundert
Weil jeder Mensch auf Lernprozesse angewiesen ist, weil Bildung und Erziehung den „neuen Menschen“ schaffen wollen, der in der Lage ist, sich seines Verstandes zu bedienen, wird das 18. Jahrhundert immer wieder als das „pädagogische Jahrhundert“ bezeichnet (Herrmann 1981; 1993; 2005; Tenorth 2008).
John Locke
Bedeutsam für die Pädagogik der Aufklärung waren vor allem die Ideen des englischen Philosophen John Locke (1632–1704), der als Sensualist die Bedeutung der Sinne für Wahrnehmung, Denken und Erkenntnis als zentral hervorhob. Die Aussage, dass Ideen nicht etwa göttlichen Ursprungs, also angeboren seien, sondern durch sinnliche Erfahrungen entwickelt und aufgebaut werden, eröffnete eine radikal neue Sicht auf die Entwicklungsfähigkeit eines jeden Menschen und unterstrich zugleich die Notwendigkeit von Erziehung und Bildung.
Locke beeinflusste vor allem die Vertreter der französischen Aufklärung, wie etwa die Enzyklopädisten d’Alembert und Diderot, aber auch Rousseau, Condorcet und Condillac (Hofer-Sieber 2000).
„Brief über die Blinden“
Diderots „Brief über die Blinden“ von 1749 gewann entscheidenden Einfluss auf eine gewandelte Einstellung gegenüber behinderten Menschen (Möckel 2006). Indem Diderot eine Sinnesbehinderung nicht mehr unter dem Aspekt eines Defizits betrachtete, sondern sich für Kompensationsleistungen durch andere Sinne, wie etwa den Tastsinn als „Vikariatssinn“ interessierte, bescheinigte er auch den in ihren Sinnen eingeschränkten Personen prinzipielle Bildungsfähigkeit. Folglich existierte nach Auffassung der Sensualisten kein grundlegender anthropologischer Unterschied mehr zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Damit bestand die Aufforderung an findige Pädagogen, Methoden und Hilfsmittel zu erdenken, durch deren Einsatz bei der Beanspruchung der „Stellvertretersinne“ das Bildungspotenzial behinderter Menschen zur Entfaltung zu bringen war.
Diderot thematisierte in seinem Brief bereits konkrete Fragen der Unterrichtung blinder Menschen wie die Gestaltung unterschiedlicher Unterrichtsfächer oder den Einsatz von Hilfsmitteln und gab damit unschätzbare Anregungen für die sich entwickelnde pädagogische Praxis der Bildung von Menschen mit Sehbeeinträchtigung. Auch die Gruppe der „Taubstummen“ erfuhr durch Diderot eine ungeahnte Aufwertung, da Sprache und Verstand von ihm nicht mehr als unaufhebbare Einheit betrachtet wurden und damit Taubstumme nicht mehr, wie so häufig, als geistlose Wesen und nicht zur Kategorie des Menschen gehörend, betrachtet wurden. Diderot sah vielmehr in der Gebärdensprache eine natürliche und aussagekräftige menschliche Sprache. Deren besondere Wertschätzung schlug sich auch in seinem literarischen Werk „Rameaus Neffe“ nieder.
Abb. 2.2: Diderots Brief über die Blinden“
Diese neue Sicht auf eine Behinderung findet sich in Diderots „Brief über die Blinden. Zum Gebrauch für die Sehenden“, in dem uns ein Blinder aus dem Provinzstädtchen Puiseaux vorgestellt wird, der nicht nur über erstaunliche Fähigkeiten verfügt, sondern recht selbstbewusst sein tägliches Leben meistert:
„Das ist ein Mann, dem es nicht an gesundem Verstand fehlt, den viele Leute kennen, der etwas von Chemie versteht und der mit einigem Erfolg die Vorträge über Botanik im Jardin du Roi gehört hat. Er stammt von einem Vater, der an der Pariser Universität unter Beifall Philosophie gelehrt hat. Er besaß ein ansehnliches Vermögen, mit dem er die Sinne, die er noch hatte, leicht hätte befriedigen können; doch überwältigte ihn in der Jugend die Vergnügungssucht. Man mißbrauchte seine Neigungen, seine häuslichen Angelegenheiten gerieten in Unordnung, und so zog er sich in eine kleine Provinzstadt zurück, von der er nun jedes Jahr eine Reise nach Paris macht. Er vertreibt dort Liköre, die er selber destilliert und mit denen man sehr zufrieden ist […]
Wir trafen gegen fünf Uhr abends bei unserem Blinden ein und fanden ihn damit beschäftigt, mit Hilfe erhabener Buchstaben seinen Sohn das Lesen zu lehren. Er war erst vor einer Stunde aufgestanden; denn Sie müssen wissen, daß der Tag für ihn anfängt, wenn er für uns aufhört. Er pflegt seine häuslichen Angelegenheiten zu erledigen und zu arbeiten, während die anderen ruhen. Um Mitternacht stört ihn nichts und fällt er niemandem zur Last. Seine erste Sorge ist, alles aufzuräumen, was man im Lauf des Tages von seinem Platz entfernt hat; und wenn seine Frau erwacht, findet sie gewöhnlich das Haus in Ordnung […]
Wir sahen ihn sehr feine Nadeln einfädeln. Darf man Sie bitten, Madame, hier Ihre Lektüre zu unterbrechen und zu erproben, wie Sie an seiner Stelle damit zurechtkommen würden? Falls Sie keinen Ausweg finden, will ich Ihnen den unseres Blinden verraten. Er hält das Öhr der Nadel quer zwischen seinen Lippen, und zwar in der Richtung, die sein Mund hat; dann saugt er mit Hilfe seiner Zunge den Faden an, der seinem Atem folgt, vorausgesetzt, daß der Faden nicht zu dick für das Öhr ist. Aber in diesem Fall kommt der Sehende kaum weniger in Verlegenheit als derjenige, der des Gesichtssinns beraubt ist.
Er hat ein überaus gutes Gedächtnis für Töne, und uns zeigen die Gesichter keine größere Verschiedenheit, als er in den Stimmen bemerkt. Sie haben für ihn unendlich viele feine Nuancen, die uns entgehen, weil wir nicht das gleiche Interesse an ihrer Beobachtung haben wie der Blinde …
Irgendeiner von uns kam auf den Gedanken, den Blinden zu fragen, ob er sich nicht freuen würde, wenn er Augen hätte. ‚Wenn mich nicht die Neugierde beherrschte!‘, sagte er, ‚so hätte ich ebensogern lange Arme. Mir scheint, daß meine Hände mich dann über das, was auf dem Mond geschieht, besser unterrichten würden als eure Augen oder eure Fernrohre. Außerdem hören die Augen eher auf zu sehen als die Hände zu fühlen. Es wäre also für mich wertvoller, wenn man bei mir das Organ vervollkommnete, das ich besitze, als wenn man mir jenes Organ gäbe, das mir fehlt.‘ […]
Der Blinde aus Puiseaux schätzt die Nähe des Feuers nach den Hitzegraden, das Maß, bis zu dem Gefäße gefüllt sind, nach dem Geräusch, das die Flüssigkeiten beim Eingießen verursachen, und die Nähe der Körper nach der Wirkung der Luft auf sein Gesicht. Für die geringsten Veränderungen, die in der Atmosphäre eintreten, ist er so empfindlich, daß er eine Straße von einer Sackgasse unterscheiden kann. Er schätzt vortrefflich das Gewicht der Körper sowie die Hohlmaße der Gefäße und hat sich aus seinen Armen eine so genaue Waage und aus seinen Fingern einen so bewährten Zirkel gemacht, daß ich in den Fällen, in denen es um Fragen des Gleichgewichts geht, immer auf unseren Blinden gegen zwanzig Sehende setzen werde. Die glatte Oberfläche der Körper hat für ihn kaum weniger feine Unterschiede als der Klang der Stimme, und daß er seine Frau mit einer anderen verwechselte, wäre nur zu befürchten, wenn er bei dem Tausch gewänne […]
Vorher hatte er die Absicht, sich mit einem Tauben zusammenzutun, der ihm Augen leihen sollte und dem er als Gegenleistung Ohren bieten wollte. Nichts hat mein Erstaunen dermaßen erregt wie seine eigentümliche Begabung für sehr viele Dinge; doch als wir ihm unsere Überraschung bezeugten, sagte er: ‚Ich bemerke wohl, meine Herren, daß Sie nicht blind sind. Sie sind erstaunt über das, was ich tue. Und warum staunen Sie nicht darüber, daß ich sprechen kann?‘ In dieser Antwort, so glaube ich, liegt mehr Philosophie, als er selbst hineinlegen wollte. Erstaunlich ist in der Tat die Leichtigkeit, mit der man sprechen lernt. Mit einer Menge von Wörtern, die nicht durch sinnlich wahrnehmbare Gegenstände vorgestellt werden können und sozusagen körperlos sind, können wir Ideen doch nur durch eine Reihe von feinen und tiefen Kombinationen zwischen den Ähnlichkeiten verbinden, die wir zwischen diesen nicht sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen und den durch sie erweckten Ideen bemerken.“ (Diderot 1961, 51ff)
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