den Haüy als Kronzeugen für seine erfolgreiche pädagogische Arbeit mit blinden Kindern benennen konnte. In seiner Eigenschaft als Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften hatte Condorcet im Februar 1785 einen Bericht über die ersten Unterrichtserfolge Haüys verfasst, in dem er nicht nur die außerordentlichen methodischen Fortschritte der Erziehung von Menschen mit Blindheit beschrieb, sondern zugleich auf das Wärmste die Etablierung einer Institution für die Erziehung und Unterrichtung blinder Kinder und Jugendlicher empfahl. Dabei erinnerte Condorcet ausdrücklich an die nur wenige Jahre zurückliegenden pädagogischen Erkenntnisse und Erfolge eines Abbé de l’Epée, der sich wie Haüy einer bislang vernachlässigten gesellschaftlichen Gruppe zugewandt hatte (Haüy 1990, Anhang).
Während John Locke und der Sensualismus in Deutschland einen geringeren Einfluss als in Frankreich ausübten, war hingegen ein anderer Vertreter der frankophonen Aufklärung im deutschsprachigen Raum von ungeheurer Wirkung, nämlich Jean-Jacques Rousseau (1712–1778).
Erziehungs- roman „Emile“
Sein Erziehungsroman „Emile oder über die Erziehung“ von 1762 fand begeisterte Aufnahme in Deutschland:
„Der Einfluß, den Rousseau auf die gesamte deutsche Aufklärung ausübt, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden; Lessing und Kant sind von ihm tief beeindruckt, die Philanthropen übersetzen seinen ‚Emile‘ und orientieren ihre Erziehungsvorstellungen zum Teil an ihm, ohne allerdings seiner Gesellschafts- und Kulturkritik zu folgen. Für Herder und den Sturm und Drang dagegen wird gerade dieser Teil von Rousseaus Gedanken zum Evangelium.“ (Nieser 1992, 217)
Pädagogik vom Kinde aus
Rousseaus Lehre von der natürlichen Erziehung, die kritische Distanz gegenüber Gesellschaft und Kultur, die Anerkennung einer eigenständigen kindlichen Entwicklung sowie die Entdeckung des Eigenrechts des Kindes (Flitner 1957, 31ff; Blankertz 1982, 69ff), das Denken in Entwicklungsstufen – kurzum, eine „Pädagogik vom Kinde aus“ – sind die bahnbrechenden neuen pädagogischen Ideen, die auch jene erfasste, die sich den vernachlässigten, behinderten Kindern zuwendeten. So berief sich Johann Jakob Guggenbühl (1816–1863) in seinem „Hülfsruf aus den Alpen, zur Bekämpfung des schrecklichen Cretinismus“ von 1840 neben anderen Kronzeugen ausdrücklich auf das Vorbild Rousseau, und Johann H. Pestalozzi gab aus Verehrung für Rousseau seinem Sohn den Vornamen Jean-Jacques.
Und dennoch werden an die Erziehungstheorie Rousseaus gerade in der Gegenwart und vor dem Hintergrund der Erfahrungen einer ausgrenzenden Pädagogik im 20. Jahrhundert kritische Anfragen seitens der Sonderpädagogik gestellt. Indem Rousseau, zweifellos in exemplarischer Absicht, für sein Erziehungsexperiment bewusst ein gesundes und starkes Kind auswählte, schloss er all jene aus, die diesen Idealvorstellungen nicht entsprachen. Daraus den Schluss zu ziehen, dass Rousseau Kindern mit Behinderung keine Erziehung gewähren wollte, kann aus dem Kontext des Textes meines Erachtens nicht abgeleitet werden, aber es bleibt aus sonderpädagogischer Sicht das Problem, dass der imaginäre „durchschnittliche“ Educandus als anthropologisches Modell begrenzt ist und damit die Vielfalt menschlicher Existenz nicht umfasst. Haeberlin urteilt,
„dass Rousseau mit seiner Vorstellung von natürlicher Entwicklung einerseits das entwicklungspsychologische Verständnis für das Kind ausserordentlich gefördert, dass er aber andererseits damit den Zugang zum Kind mit Abweichungen von der Entwicklungsnorm eher verbaut hat.“ (Haeberlin 2005, 128)
Lassen wir Rousseau selbst zu Wort kommen:
„Dieser vorher abgeschlossene Vertrag setzt eine glückliche Entbindung, ein wohlgebildetes, starkes und gesundes Kind voraus. Ein Vater hat keine Wahl und darf kein Kind bevorzugen; sie sind alle auf gleiche Weise seine Kinder, er schuldet ihnen allen die gleiche Fürsorge und die gleiche Zuneigung. Ob Krüppel oder nicht, kränklich oder stark, jedes ist sein Gut, über das er dem Rechenschaft ablegen muß, der es ihm schenkte […]
Wer eine Pflicht übernimmt, die ihm die Natur nicht aufzwingt, muß sich zuvor der Mittel versichern, sie zu erfüllen. Andernfalls ist er sogar dafür verantwortlich, was er nicht leisten konnte. Wer sich mit einem kränklichen und schwächlichen Zögling belastet, macht sich zum Krankenpfleger statt zum Erzieher […]
Ich würde mich nicht mit einem kränklichen und siechen Kind belasten, und wenn es achtzig Jahre alt würde. Ich mag keinen Zögling, der sich selbst und anderen unnütz ist, der allein damit beschäftigt ist, sich am Leben zu erhalten, und dessen Leib der Erziehung der Seele schadet. Verschwende ich meine Fürsorge an ihn, so verdopple ich den Verlust, indem ich der Gesellschaft zwei statt nur einen Menschen entziehe. Mag ein anderer sich dieses Krüppels annehmen. Ich bin einverstanden und lobe seine Nächstenliebe; hier aber liegt nicht meine Stärke. Ich kann nicht jemanden leben lehren, der nur daran denkt, wie er dem Tode entgeht.“ (Rousseau 1762/1995, 28)
Am Beispiel Rousseaus werden Widersprüche und Ambivalenzen einer Pädagogik der Aufklärung deutlich, wie sie auch in der deutschen Aufklärung durch die Proklamierung des Prinzips der Perfektibilität (Moser 1995, 47) zu finden sind. Die philanthropische Bewegung in Deutschland verkündete zwar das Streben nach individueller Vollkommenheit und Glückseligkeit, aber zugleich auch das nach gesellschaftlicher Brauchbarkeit und Nützlichkeit. Damit waren Widersprüche gegeben „zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Anpassung und Mündigkeit, zwischen dem Utilitarismus […] und der Bildung der Individuen zur Humanität“ (Tenorth 2008, 76), aber auch – so möchte ich im Hinblick auf Behinderung hinzufügen – zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen sowie zwischen Differenz und Verschiedenartigkeit auf der einen und Normierung und Ausgrenzung auf der anderen Seite.
Pädagogik der Armut
Diese Widersprüchlichkeit zwischen zweckfreier Allgemeinbildung und gesellschaftlicher Brauchbarkeit spitzt sich zu, wenn Strategien einer Pädagogik der Armut in den Blick genommen werden. Der mutige Landreformer Fritz Eberhardt von Rochow (1734–1805) proklamierte zwar, „daß Bildung als allgemeines ‚Menschenrecht auch dem Geringsten und Ärmsten‘ zustehe“ (Wehler 1989, 287; Schmitt 2003), aber er scheiterte mit seinen Plänen. Das Schulwesen am Ende des 18. Jahrhunderts war in Deutschland nach wie vor ein Abbild der ständischen Gesellschaft, in der jedem von Geburt her sein Platz zugewiesen war. Auch die Industrieschule kann als eine „Institution der Pädagogik der Armut“ klassifiziert werden (Leschinsky/ Roeder 1976), denn ihr primäres Ziel war die Erziehung zu Tugenden wie Fleiß und Sparsamkeit im Rahmen der vorfindlichen Gesellschaftsordnung, die dem Phänomen der Armut vorrangig mit Überwachung und Strafe begegnete (Foucault 1961; 1976; Herrmann 1981; Moser 1995). Herwig Blankertz urteilte über den Philanthropismus:
„[…] im Programm der allgemeinen Menschenbildung drückte Rousseau den revolutionären Anspruch der Aufklärung pädagogisch aus. Die deutschen Philanthropen faßten das Problem sehr viel enger. In ihrer Theorie der utilitären Erziehung rechtfertigten sie das, was die Praxis des merkantilistischen Staates war, nämlich den einzelnen Menschen dem gesellschaftlichen Anspruch preiszugeben, durch die Aufgabe, an dem ihm angewiesenen Orte zu funktionieren.“ (Blankertz 1982, 81f)
allgemeines Menschen- und Bildungsrecht
Und dennoch, so möchte ich abschließend unterstreichen, waren mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Ideen der allgemeinen Menschen- und Bildungsrechte in die Welt gekommen, die fortan ihre Wirksamkeit entfalteten.