anstellt, und zur Bestätigung seines Systems über die Erzeugung der Ideen sehr nützlich werden soll.“ (Werner 2004, 11)
Itards Erziehungsversuch
Itards Erziehungsversuch ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund einer Reform der französischen Psychiatrie, vertreten durch Pinel und Esquirol, die nicht nur für eine menschenwürdigere Behandlung der „Irren“ eintraten, sondern auch wichtige Vorarbeiten für eine differenzierte medizinische Sicht auf das Phänomen „Geisteskrankheiten“ leisteten. Itard, der in der Tradition des Sensualismus stand, unternahm sein sorgfältig dokumentiertes Erziehungsexperiment, um nachzuweisen, dass – entgegen der landläufigen Meinung – auch dieses scheinbar idiotische Kind durch menschliche Zuwendung sowie geduldige, gezielte sinnliche Erziehung zu einer höheren Entwicklung gebracht werden könne. Sein Bericht beeindruckt noch heute durch die Präzision der Beobachtung, den methodischen Erfindungsreichtum sowie eine Haltung, die von der prinzipiellen Bildungsfähigkeit eines jeden Menschen, auch eines offenbar „aussichtslosen Falles“ ausgeht. Damit stand Itard im Gegensatz zu dem Psychiater Pinel, der als leitender Arzt der Pariser Irrenanstalt Bicêtre in Victor nur ein idiotisches, nicht bildbares Kind zu entdecken vermochte. 1801 legte Itard seinen ersten, aufsehenerregenden Bericht vor, der wie folgt beginnt:
„Vorwort
Schwach an Körperkräften, ohne eigenes Denkvermögen und außerstande, selbständig den Gesetzen seines Wesens zu folgen, die ihn zur Krone der Schöpfung machen, betritt der Mensch die Erde. Nur im Rahmen der Gemeinschaft kann der Mensch die große Aufgabe, die ihm von der Natur zugedacht wurde, erfüllen, und ohne Zivilisation wäre er eines der schwächsten und unbegabtesten Lebewesen: Eine oft wiederholte Behauptung, die man aber noch nicht eindeutig bewiesen hat. Die Philosophen haben sie zuerst aufgestellt und andere haben sie weitergeführt und propagiert, indem sie als Beweis den physischen und moralischen Stand irgendwelcher herumziehender Völkerschaften nahmen, die sie als unzivilisiert betrachteten, weil sie nicht nach unserer Art zivilisiert waren, und bei welchen sie diejenigen Züge suchten, die der Mensch im reinen Naturzustand aufweist. Nein, hier muß man ihn nicht su- chen und studieren. In der wildesten Nomadenhorde und in der zivilisiertesten europäischen Nation ist der Mensch nur das, was man aus ihm macht. Notwendigerweise von seinesgleichen aufgezogen, nimmt er auch Gewohnheiten und Bedürfnisse an. Seine Ideen gehören ihm nicht allein. Er genießt den schönsten Vorzug seiner Gattung, nämlich die Fähigkeit, seinen Verstand zu entwickeln durch die Kraft der Nachahmung und den Einfluß der Gemeinschaft […]
Bericht über die ersten Entwicklungsschritte eines jungen Wilden
Ein Kind von bis 12 Jahren wurde in den Wäldern von Caune gesichtet. Es war vollständig nackt, suchte Eicheln und Wurzeln als Nahrung. Gegen Ende des Jahres VII [das Jahr 1799 nach dem republikanischen Kalender, E.-R.] wurde es wieder am gleichen Ort von drei Jägern gesehen. Sie ergriffen es im Moment, als es auf einen Baum klettern wollte, um sich ihrer Verfolgung zu entziehen. In einen Weiler der Nachbarschaft geführt und der Obhut einer Witwe überlassen, entfloh es im Verlaufe einer Woche. Es suchte die Berge zu erreichen, wo es in der winterlichen Kälte herumirrte, kaum bedeckt mit einem zerrissenen Hemd. Während der Nacht zog es sich zurück an einsame Orte, am Tag näherte es sich den benachbarten Dörfern und führte so ein vagabundierendes Leben bis zum Tage, an dem es von sich aus in ein bewohntes Haus im Departement Saint-Sernin eintrat.
Es wurde wieder aufgenommen, überwacht und gepflegt während zwei oder drei Tagen […] Ein Minister, Gönner der Wissenschaften, glaubte, daß dieses Ereignis für die Kenntnis der menschlichen Natur aufschlußreich sein könnte. Er gab Anweisung, daß das Kind nach Paris gebracht werde. Dorthin kam es Ende des Jahres VIII in Begleitung eines armen und achtbaren Greises, welcher versprach, es wieder zu sich zu nehmen und an ihm Vaterstelle zu vertreten, wenn die Gesellschaft es verlassen sollte.
Übermäßige, ja unvernünftige Hoffnungen gingen in Paris der Ankunft des Knaben vom Aveyron voraus. Viele Neugierige machten sich ein Vergnügen daraus, sein Erstaunen beim Betrachten der schönen Dinge in der Hauptstadt zu sehen. Viele sonst durch ihre Einsicht bekannte Persönlichkeiten dachten nicht daran, daß unsere Organe umso weniger anpassungsfähig sind und die Nachahmung umso schwerer ist, je isolierter ein Mensch lebt und je älter er ist. Sie glaubten, daß die Erziehung dieses Individuums die Angelegenheit einiger Monate sei und daß man schon bald über sein vergangenes Leben die interessantesten Auskünfte bekommen könne. Was sah man statt dessen? Ein widerlich schmutziges Kind, von spastischen und zeitweise krampfartigen Zuckungen befallen, das sich ständig wie gewiße Tiere in einer Menagerie hin- und herwiegte. Es biß und kratzte seine Betreuer und war dann wieder ganz gleichgültig.
Es ist leicht begreiflich, daß ein solches Wesen nur vorübergehend die Aufmerksamkeit der Neugierigen reizen konnte. Man rannte in Massen herzu, man sah es, ohne es zu beobachten, man beurteilte es, ohne es zu kennen und dann sprach man nicht mehr davon. In der allgemeinen Gleichgültigkeit vergaßen die Leiter und der berühmte Direktor der staatlichen Taubstummenanstalten nicht, daß man diesem Kinde gegenüber Verpflichtungen übernommen hatte, die es zu erfüllen galt. Sie erhofften wie ich viel von einer medizinischen Behandlung und übergaben das Kind mir zur Pflege.“ (Itard 1965, 17ff; Malson et al. 1972)
Itard scheitert
Nach fünf Jahren engagierter pädagogischer Arbeit resignierte Jean Itard. Die Fortschritte in der Entwicklung Victors waren sehr viel geringer, als Itard erhofft hatte; trotz großer Anstrengungen war es ihm z. B. nicht gelungen, Victor zum Sprechen zu bringen (eine psychoanalytische Deutung des Scheiterns von Itard findet sich bei Leber 1981).
Edouard Séguin
Aber nicht nur die Idee von der Bildbarkeit auch geistig behinderter Menschen war geboren, sondern es waren zudem erste Beweise für deren praktische Umsetzung erbracht. Es war ein junger Mitarbeiter Itards aus der Pariser Taubstummenanstalt, der den Faden Itards wieder aufgriff und mit großem Erfolg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterspann: der „Taubstummenlehrer“ und Arztsohn Edouard Séguin (Pellicier/Thuillier 1996, 1979; Rohrmann 2013).
Condorcets Bildungsplan
Diderot formulierte nicht nur revolutionäre Bildungsideen, sondern er entwickelte auch eine Konzeption für das öffentliche Bildungswesen, das allen Kindern der Nation offenstehen und in dem alleine die Fähigkeiten und das Vermögen des Einzelnen, nicht aber der gesellschaftliche Stand über das Maß an Bildung für den Einzelnen entscheiden sollte (Nieser 1992, 43ff).
Antoine de Condorcet
Fortgeführt wurde der Gedanke einer allgemeinen Bildung für alle durch Marie Jean Antoine de Condorcet (1767–1794), einem Gegenspieler der Jakobiner und ihres durch Le Peletier repräsentierten Erziehungskonzepts radikaler Gleichheit (Hellekamps/Musolff 1999, 107ff). Condorcets liberaler Schulentwurf ging von einer natürlichen Gleichheit individueller Rechte bei gleichzeitiger Ungleichheit individueller Fähigkeiten aus, und er propagierte demgemäß ein gestuftes Bildungswesen, das aus Primarschulen, Sekundarschulen, Instituten und Lyzeen bestehen sollte. Auch wenn Condorcets Bildungsplan in Frankreich nicht in die Praxis umgesetzt wurde, so blieb dieser Entwurf doch bis auf den heutigen Tag Modell eines demokratischen Bildungswesens (Michael/Schepp 1993, 84f).
Jean-Jacques Rousseau
Als sich Valentin Haüy 1786 mit seinem Erziehungs- und Unterrichtsplan