Sieglind Ellger-Rüttgardt

Geschichte der Sonderpädagogik


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in und an der Gegenwart unter einer aktuellen Fragestellung“ (1998, 280).Geschichte, so allgemeiner Konsens, ist stets standortgebunden und nimmt ihren Ausgang von relevanten Fragen der Gegenwart. Daraus folgt, dass jede historische Forschung ihr erkenntnisleitendes Interesse offenlegen muss. Eine um Aufklärung bemühte Geschichtsschreibung ist unvereinbar mit den Positionen einer dogmatischen materialistischen Geschichtsauffassung, aber ebenso mit einer vermeintlich wertfreien, narrativen (erzählenden) Ideengeschichte. Gefragt ist vielmehr eine pluralistische, kritische Geschichtsschreibung, die unterschiedliche methodische Zugangsweisen integriert und die daher Momente von Kultur- und Alltags-, von Sozial-, Institutionen- und Ideengeschichte als prinzipiell gleichberechtigt anerkennt (Eibach/Lottes 2002; Tenorth 2008). Geschichtliches Verständnis soll schließlich dazu beitragen, den professionellen Pädagogen eine Orientierung in der Gegenwart zu ermöglichen:

      „Geschichte der Pädagogik, das ist […] immer auch der Versuch, an der Erziehungswirklichkeit der Vergangenheit Herkunft und Möglichkeiten der Pädagogik in der Gegenwart zu analysieren und den professionellen Pädagogen eine Tradition zu eröffnen, in der er eine zukunftsfähige berufliche Identität gewinnen kann.“ (Tenorth 2008, 7)

      Der Sinn von Geschichte – so können wir zusammenfassen – zielt auf das handlungsfähige Subjekt, das seine Identität in Gegenwart und Zukunft durch die Begegnung mit dem Vergangenen erfährt. Die Beschäftigung mit der Geschichte nimmt stets ihren Ausgang von Problemen der Gegenwart, sie hilft, gegenwärtige Phänomene besser zu verstehen, und sie eröffnet Perspektiven für gesellschaftliches Handeln (Ellger-Rüttgardt 2010; 2016).

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      Wenn wir in der Gegenwart von Sonderpädagogik sprechen, dann verstehen wir darunter einen Oberbegriff für die verschiedenen sonderpädagogischen Einzeldisziplinen. Es wird deutlich werden, dass dieses Verständnis bereits Ergebnis eines historischen Prozesses ist, denn am Anfang der Entwicklung vor mehr als 250 Jahren gab es zunächst nur eine Pädagogik der Taubstummen, der Blinden und später auch der „Geistesschwachen“, aber keine ordnende, übergreifende Begrifflichkeit – diese erfolgte zum ersten Mal im 19. Jahrhundert mit dem zweibändigen Werk „Die Heilpädagogik“ von Heinrich Marianus Deinhardt, dessen erster Band 1861 erschien und der sich schwerpunktmäßig der „Idiotie“ und den „Idiotenanstalten“ widmete, gleichwohl aber das Gesamtgebiet der Heilpädagogik im Auge hatte. „Heilpädagogik“ als Oberbegriff wird wenig später von dem Taubstummen- und „Schwachsinnigenpädagogen“ Heinrich Ernst Stötzner in seiner Schrift „Altes und Neues aus dem Gebiete der Heilpädagogik“ von 1868 unter Berufung auf das Werk von Deinhardt aufgegriffen, indem er den Gegenstand dieses „neuen Zweiges der Pädagogik“ wie folgt umschreibt:

      „In ihren Bereich gehören die Viersinnigen, die sittlich Verwahrlosten, die Blöd- und Schwachsinnigen, die Cretinen, die Stotterer, die körperlich gebrechlichen Kinder; Letztere, so weit dadurch die geistige Entwicklung gehemmt wird. Im weitesten Sinn wird alle Pädagogik zur Heilpädagogik, sobald es gilt, falsch ausgebildeten Willens- und Gemüthsrichtungen im Kinde entgegenzutreten.“ (Stötzner 1868, 2)

      Die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik war bislang primär eine Geschichte der jeweiligen sonderpädagogischen Disziplinen und das von Svetluse Solarová 1983 herausgegebene Werk „Geschichte der Sonderpädagogik“ spiegelt genau dieses Vorgehen wider, indem es jeweils einzelne Abhandlungen zu den jeweiligen sonderpädagogischen Fachrichtungen aufweist.

      Die von Andreas Möckel 1988 vorgelegte und 2007 überarbeitete „Geschichte der Heilpädagogik“ repräsentiert die erste übergreifende Darstellung des Gegenstandes Heilpädagogik. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Möckel die Geschichte der Heilpädagogik im Referenzsystem von Pädagogik schlechthin thematisiert, denn er postuliert, dass „die Ursprünge der Heilpädagogik [uns] pädagogische Ursprünge [sind]“ (Möckel 2007, 23f). Indem Möckel allerdings seinen Blick auf das Scheitern in der Erziehung richtet, Versagen als zentrale Fragestellung wählt, ferner sein Augenmerk vor allem auf die Entstehung und Entwicklung „der ersten, bahnbrechenden Institutionen“ (Möckel 2007, 26) für Schüler mit Behinderung lenkt und schließlich Heilpädagogik eher als Gegenentwurf (so gegen Rousseau), nicht jedoch als komplementäres oder gar einheitsstiftendes Element der Allgemeinen Pädagogik ansieht, verharrt er letztlich, so scheint uns, notwendigerweise in einem eingeschränkten behindertenpädagogischen Referenzsystem.

      Universalität von Bildung

      Unser Blick auf die Geschichte der Sonderpädagogik möchte einen anderen Weg einschlagen, indem er die Blickrichtung wechselt. Ausgangspunkt unserer Darstellung soll nicht das bereits als Ergebnis historischer Prozesse generierte Besondere der Pädagogik sein, sondern das Allgemeine, der Universalitätsanspruch auf Bildung für alle.

      Ambivalenzen moderner Pädagogik

      Die Pädagogik der Moderne (vgl. Herrmann 2005; Tenorth 2006a) ist gekennzeichnet durch Ambivalenzen und Widersprüche, die sich am zentralen Begriff der Bildsamkeit aufzeigen lassen. Bildsamkeit als der zentrale Begriff der Pädagogik „zur Bezeichnung der Erziehbarkeit und Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen“ (Benner/Brüggen 2004, 174) schließt als Idee und aus anthropologischer Sicht alle Personen ein, also auch Menschen mit einer Behinderung, sie gilt demnach universell. In ihrer praktischen Wirksamkeit – und darin liegt zugleich ihr paradoxaler Charakter – führt diese Idee der Bildsamkeit zu Besonderheiten, zur Partikularität, sei es durch spezifische Methoden, besondere Bildungsorganisationen oder aber eigene Professionsgruppen.

      „In der subtilen Identifikation von Problemen wird die Partikularisierung verschärft und die Differenz und Separierung der Klientel erzeugt, die der an Gleichheit von Bildung und Bildsamkeit orientierte Diskurs an sich verbietet.“ (Tenorth 2006a, 498)

      In ähnlicher Weise, unter Rekurs auf Störungen der Bildsamkeit, schrieb U. Bleidick 1978:

      „Die Idee der Allgemeinen Pädagogik stammt von Herbart. Er hat ihr im Grundbegriff der Bildsamkeit des Zöglings […] das begriffliche Fundament gewiesen. Wenn nun Pädagogik über diese allgemeinen Aussagen hinausgeht, nach den einzelnen speziellen Inhalten der Bildung in den sprachlichen, religiösen, technischen Disziplinen, nach ihren institutionellen Formen in Familie, Schule, Kirche und Staat, nach Erziehungsformen, Bedingungen der Bildsamkeit usw. fragt, fächert sie sich in eine differenzielle Pädagogik besonderer Bereiche auf.“ (Bleidick 1978, 52f) Bildsamkeit von Menschen mit Behinderung

      Bildsamkeit von Menschen mit Behinderung

      Dieses Phänomen der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit ist – und das sei hier besonders betont – konstitutiv für den Charakter der Pädagogik seit ihrem Entstehen als Disziplin im 18. Jahrhundert. Die vorliegende Einführung in das pädagogische Spezialgebiet Sonderpädagogik unternimmt demzufolge den Versuch, die Idee der Bildsamkeit im Hinblick auf den Personenkreis behinderter Kinder und Jugendlicher unter dem Aspekt der Gleichzeitigkeit von Universalität und Partikularität zu untersuchen. Dabei ist das Ziel, sowohl die Idee selbst in ihrer Variabilität als auch die Referenzräume von Methoden, Institutionen und Profession zu analysieren.

      historische Grundfragen

      Es sind die in Tabelle 1.1 aufgeführten Grundfragen, die wie ein roter Faden die einzelnen Kapitel durchlaufen, aber in jeweils unterschiedlicher Akzentuierung zum Tragen kommen werden. Ich wähle also als Ausgangspunkt meiner Darstellung nicht die besonderen Problemlagen oder Institutionen, sondern orientiere mich in der historischen Frage nach einer Pädagogik behinderter Kinder und Jugendlicher an der für jede Pädagogik zentralen Kategorie der Bildsamkeit. Damit erteile ich allen Versuchen