„wesentliche Akzente gesetzt zu haben, um den Rahmen angenommener menschlicher Bildbarkeit zu erweitern durch den Einbezug von Menschen, denen diese bisher noch weitgehend abgesprochen worden war. Damit konnte einerseits der Bereich pädagogischen Wirkens durch methodische Differenzierung erweitert werden. Andererseits wurde damit gleichzeitig die Vorstellung des Allgemeinmenschlichen breiter und vielfältiger gedacht. Bisher geltende Normierungen mussten bezüglich ihrer Gültigkeit für Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten hinterfragt und relativiert werden“ (2000, 211).
Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung
Schließlich liegen auch die Anfänge der Bildung und Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung im Zeitalter der Aufklärung, auch wenn die institutionalisierten Erziehungsversuche zeitlich deutlich später als die der Menschen mit Hör- und Sehbeeinträchtigung erfolgten.
Johann Heinrich Pestalozzi
Im deutschsprachigen Raum war es Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), auch ein Kind der Aufklärung und anfänglicher Bewunderer seines Landsmannes Rousseau, der bis in die Gegenwart als Urvater einer Pädagogik gilt, die in Theorie und Praxis auch jene mit einschließt, die nicht zu den Musterbildern an Stärke, Schönheit und Klugheit gehören. Damit zählt Pestalozzi mit seiner Theorie der allgemeinen Menschenbildung zugleich zu den Mitbegründern der Heilpädagogik. Pestalozzis Erziehungsversuch auf dem Neuhof von 1777, wo er sich verwaister, verwahrloster und auch behinderter Kinder annahm, gibt davon Zeugnis. Ausgelöst durch die Enttäuschungen über die Schattenseiten der menschlichen Natur, wie sie im Laufe der französischen Revolution und der Revolutionskriege zutage traten, hat sich Pestalozzi später von dem optimistischen anthropologischen Grundmuster des Naturzustandes des Menschen eines Rousseau abgewandt. Hans Scheuerl schreibt:
„Lienhart undGertrud“
„In seinem Volksbuch ‚Lienhart und Gertrud‘ […] zeichnet Pestalozzi […] ein umfassenderes Bild des Menschen als Rousseau, ein Bild von den Menschen in ihren wirklichen Wechselbeziehungen, in denen zwischen Gut und Böse, Gelingen und Scheitern auch die Mitteltöne nicht fehlen; ein realistisches Gemälde sozialer und ökonomischer, moralischer und geistiger Zustände, wie er sie im Züricher Gebiet und von seinem Gut in Neuhof aus hatte studieren können.“ (1982, 116)
Pestalozzi schreibt in seinem Aufruf an die Gönner und Förderer seiner Armenerziehungsanstalt von 1777:
„Edle Menschenfreunde.
Sie haben vor einem Jahr den schwachen Anfang meiner Erziehungsanstalt für arme Kinder unterstützen wollen, und ich wende mich auch dis Jahr wieder an Sie, edle Gönner dieser Endzwecke. Noch ist der Erfolg und die ganze Sache klein – aber dennoch ist es Ihnen Freude, daß ich mit Wahrheit versichere, daß einige Jünglinge und Mädchen davon, die einen unfehlbar dem Bettel und allem ihn begleitenden Elend aufgeopfert, die ändern in der äussersten Vernachlässigung einer drückenden Hausarmuth geblieben wären – zu Arbeitern gezogen sind, die mir wirklich jetzo schon Hilfe und Freude sind.
Es zeichnen sich aus
Barbara Brunner von Esch Zürichbieth, voll Empfindung, Verstand und angreifender Thätigkeit. Nur fühlt es sich zu sehr in der niedern Claß des Dienstenlebens – und ist zu wenig sanft für ein Mädchen.
Franziska Hediger catholischer Religion ein achtsames bescheidens weitgefölgigers Mädchen – eine vortreffliche Magd im ganzen Sinn des Worts.
Leonze Hediger sein Bruder wird ein vorzüglich guter Weber werden – ein Knab voll Muth, Stärke und Wachsthum, kühn bis zur Frechheit aber doch gutherzig […]
Anna Vogt und Elisabeth Vogt von Mandach.
Diese 2 Geschwisterte sind im erbärmlichsten Landstreifferleben eines gänzlichen Müssiggangs gewohnt gewesen – und fast ohne Hofnung war es die Arbeit dreyer Jahre sie von dieser Unthätigkeit und der damit verknüpften Untreu und Dieberey zurück zubringen. Mit inniger Freude sehe ich die Dumheit des ältern, von der man sich keine Vorstellung machen kann, nach und nach entwickeln – und seine gänzliche Unempfindlichkeit – fangt an zu weichen; Empfindungen von sittlicher Freude und Dankbarkeit und Pflicht kommen in sein Herz, und die Folgen der tieffesten, ödesten, verworrensten Wildheit und des hartesten Elends fangen an sich zu schwächen […]
Noch muß ich Maria Bächli und Lisabeth Arnolds gedenken. Das erste ist gänzlich blödsinnig im höchsten Verstand des Worts – so stark, daß ich keinen grössern Grad von Blödsinnigkeit bey eingesperrten Narren gesehen – Dabey hat es ein bewundernswürdiges musicalisches Gehör. Das zweyte voll Fähigkeiten, aber von der höchsten Armuth entkräftet krumzwerg, konnte es im neunten Jahr noch nicht gehen – Beyde diese Kinder verdienen ihr Brod, und gehen einem Leben entgegen in welchem sie ruhig eines ihre Wünsche befriedigenden Unterhalts sicher sind – Und es ist grosse tröstende Wahrheit, auch der aller Elendeste ist fast unter allen Umständen fähig zu einer alle Bedürfnisse der Menschheit befriedigenden Lebensart zu gelangen – Keine körperliche Schwäche, kein Blödsinn allein gibt Ursach genug – solche mit Beraubung ihrer Freyheit in Spitälern und Gefängnissen zu versorgen – sie gehören ohne anders in Auferziehungshäuser, wo ihre Bestimmung ihren Kräften und ihrem Blödsinn angemessen gewählt und leicht und einförmig genug ist – so wird ihr Leben, der Menschheit gerettet, für sie nicht Qual sondern beruhigte Freude, für den Staat nicht lange kostbare Ausgabe sondern Gewinnst werden. Und ich fühle die Wichtigkeit dieser Wahrheit so sehr, daß ich der Bestätigung derselben durch mehrere Erfahrung mit Sehnsucht entgegen sehe – und wirklich wünsche ich noch einige Kinder von diesem Grade des Blödsinns – und cörperlicher Schwäche, wenn selbige nicht mit Auszehrungskrankheit behaftet ist, in meiner Anstalt zu haben.“ (Pestalozzi 1927, 176ff)
der „Wilde von Aveyron“
Auch im Frankreich der Aufklärung gab es ein frühes Erziehungsexperiment, das von großer Bedeutung für die Entwicklung der „Geistigbehindertenpädagogik“ werden sollte: der Erziehungsversuch mit Victor, dem „Wilden von Aveyron“.
Jean Itard
Dieser fand im August 1800 Aufnahme in der Taubstummenanstalt von Paris, die nun unter der Leitung des Priesters Sicard stand und in der Jean Itard als leitender Arzt tätig war. Die Kunde über das Aufgreifen des „Wilden von Aveyron“ im Jahre 1799 drang auch nach Deutschland. 1800 erschien ein entsprechender Bericht in der Zeitschrift „Frankreich“, die im liberalen Altona von 1799 bis 1804 erschien – ein Beleg dafür, wie stark alles, was in Frankreich zur Zeit der Revolution geschah, in intellektuellen Kreisen in Deutschland Beachtung fand und wie dicht der internationale Diskurs zum Thema „Behinderung“ war. Die Pariser Korrespondenten übermittelten folgenden französischen Bericht:
„Wir haben diesen Knaben neulich in dem Garten von St. Magloire gesehn. Er scheint 12 bis 13 Jahre alt zu seyn. Er aß halbgekochte Bohnen, mit denen er eben so behend, wie ein Affe mit Nüssen umzugehn wußte. Er heftet seine Augen auf keinen Gegenstand; er mag nicht mit vielen Menschen seyn; sobald man ihm zu nahe kommt sucht er zu entfliehn. Man gab ihm ein Stück Zwieback; er warf es weg […] Er hat starke Narben am linken Arm; man sollte glauben die Stellen wären verbrannt. Wie es scheint hat man ihm den Hals abschneiden wollen, denn der Einschnitt des Messers ist noch sichtbar […]
Wie uns geschienen ist er nicht taub. Er läuft nicht schnell, und hat einen üblen Anstand und keine Leichtigkeit beym Laufen. Er weint zuweilen, und schreyt immer erst auf ehe er lacht. Er läßt sich ein leichtes Kleid gefallen; doch weder Schuhe noch Strümpfe. Seine Haare, seine Haut, seine Farbe, seine Füße und seine Hände sind nicht die eines Waldbewohners. Einige Taubstumme haben uns zu verstehn gegeben, daß er zuweilen Baumrinde äße. Wir haben gesehn, daß er Stroh von der Erde aufnahm und es zwar nicht aß, aber doch aussog. Man sollte glauben, daß er gerne auf Bäume kletterte; er thut es nie. Der Bürger Sicard, der krank gewesen