Sieglind Ellger-Rüttgardt

Geschichte der Sonderpädagogik


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werden konnte – ein Recht, das bis auf den heutigen Tag keine Selbstverständlichkeit ist.

      Institutionalisierung

      Damit Ideen gesellschaftliche Wirksamkeit und Nachhaltigkeit erlangen können, bedarf es des Handelns von Personen, die bahnbrechende Ideen in gesellschaftliche Praxis umsetzen. Im Falle der Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen waren es einzelne Pioniere, die durch Gründung von Institutionen der bereits im Einzelfall bewiesenen Bildungsfähigkeit gehörloser und blinder, etwas später auch geistig behinderter Menschen, zur gesellschaftlichen Anerkennung verhalfen. Ob in Paris, Leipzig und Wien, wenig später auch in Berlin – stets waren es außergewöhnliche Persönlichkeiten, die zum entscheidenden Motor für die institutionelle Entwicklung eines besonderen Zweiges im Bildungswesen wurden. Ob diesen mutigen Schritten Einzelner aber Erfolg und eine langfristige Wirkung beschieden war, hing von den spezifisch politisch-gesellschaftlichen Umständen ab. Daher sind stets gesellschaftliche Antriebskräfte und Widerstände mit zu bedenken, wenn es um eine Darstellung der Erfolgsgeschichte der ersten Institutionen für die Bildung und Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher geht.

      Die Gründung der Pariser Taubstummenanstalt ist unaufhebbar verknüpft mit dem Wirken des Priesters Charles Michel de l’Epée (1712–1789), der nicht nur eine Methode des Taubstummenunterrichts wissenschaftlich begründete, sondern mit dem Beginn eines privaten Unterrichts taubstummer Schülerinnen den Grundstein für die Entwicklung eines Bildungswesens für Menschen mit Taubheit legte.

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      Abbé de l’Epée

      De l’Epée, Sohn eines Architekten in Versailles, Jansenist2 und wegen freisinniger Ansichten aus dem Priesteramt entlassen, war zu seiner Zeit keineswegs der Einzige, der taubstumme Personen unterrichtete – erinnert sei nur an seinen Gegenspieler Jacob Rodriguez Pereira (1715–1780), ein Verfechter der Lautsprache –, aber er verstand es, durch seine jahrelangen, auch international wirksamen Aktivitäten die Basis für die Etablierung einer öffentlich anerkannten Gehörlosenbildung zu legen.

      Der immer wieder in der Literatur erwähnte Auslöser für den Unterricht Gehörloser war de l’Epées etwa im Jahre 1760 erfolgte Begegnung mit zwei taubstummen Mädchen, die bereits von einem anderen Priester unterrichtet worden waren. Das erste Kapitel seines 1776 veröffentlichten Werkes „Institution des sourds et muets par la voie des signes méthodiques“ gibt Auskunft über die religiösen Motive de l’Epées, spiegelt die ungeheure Aufbruchstimmung und Begeisterung wider und berichtet schließlich von den öffentlich zur Schau gestellten Unterrichtserfolgen:

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      „Kommen seit etwa dreißig Jahren mehr taubstumme Kinder zur Welt als vorher? Die Stadt Paris beherbergt eine große Anzahl von ihnen, man meldet sie uns von allen Seiten aus den Provinzen, und wir wissen, daß sich in den uns umgebenden Reichen ebensoviele finden. Ohne die Ratschlüsse der göttlichen Vorsehung durchdringen […] zu wollen […] glaube ich, daß dieses Gebrechen immer in fast gleichem Verhältnis zu allen unsern Leiden gefunden worden ist. Wenn es trotzdem scheint, daß es heute mehr Taubstumme gibt als in früheren Zeiten, so kommt das daher, daß man bis auf unsere Tage die Kinder, die ohne die Fähigkeit zu hören und zu sprechen geboren wurden, von der menschlichen Gesellschaft fern hielt, weil ihr Unterricht immer als sehr schwer, in mancher Hinsicht sogar als unmöglich angesehen wurde. Die Gelehrten wußten indessen sehr wohl, daß seit zwei Jahrhunderten einige Phänomene dieser Art […] mehr oder weniger unterrichtete Taubstumme, aufgetreten waren, was man alsdann als eine Art Wunder ansah; aber die übrigen Menschen kamen gar nicht auf den Gedanken, daß man jemals dieses Werk versucht hatte, und noch weniger ahnten sie, daß es jemandem gelungen war.

      Die Taubstummheit stellte sich also den Augen als ein entsetzlicher Zustand dar und schien nach der Ordnung der Natur ein unheilbares Übel zu sein. Wir wissen sogar durch einwandfreie Berichte, daß es noch jetzt barbarische Länder gibt, in denen man die Kinder, die weder hören noch sprechen können, tötet, weil man sie als Ungeheuer ansieht […]

      Heute haben sich die Dinge geändert. Man hat mehrere Taubstumme sich in der Öffentlichkeit zeigen sehen. Die Prüfungen, die sie zu bestehen hatten, sind durch Programme angekündigt worden, welche die Aufmerksamkeit des Publikums erregt haben. Personen jeden Standes und jeden Ranges haben sich in Menge dazu eingefunden. Die Schüler sind umarmt worden, man hat ihnen Beifall gezollt, sie mit Lob überhäuft, sie mit Lorbeeren gekrönt. Die Kinder, die man bis dahin als Auswurf der Natur angesehen hatte, haben sich mehr ausgezeichnet und ihren Vätern und Müttern mehr Ehre gemacht als deren andere Kinder, die nicht imstande waren, gleiches zu leisten, und die darob erröteten […]

      Da die inländischen und fremden Zeitungen über das berichtet, was sich in Paris unter den Augen einer beträchtlichen Anzahl von vornehmen Zeugen zugetragen hat, sind die gewöhnlichen Unterrichtsstunden der Taubstummen sozusagen fortwährende Prüfungen geworden. Man sieht dort alle Tage Gelehrte verschiedener Länder und Personen höchsten Standes. Sogar einige unserer Fürsten haben sie mit ihrer Anwesenheit beehrt, und fremde Herrscher haben sich selbst davon überzeugen wollen, daß die öffentlichen Zeitungen sie nicht durch falsche Berichte getäuscht hatten.

      Es ist also gar nicht mehr die Rede davon, die Taubstummen gänzlich von der Welt abzuschließen […] Die Taubheit, die man allein für das Los der Menschen erhielt, die, sich durch eine kleine Glocke bemerkbar machend, ihr Brot in den Straßen erbetteln, erscheint jetzt nur noch als eine jener körperlichen Häßlichkeiten, von denen auch die höchsten Stände nicht ausgenommen sind, und deren Nachteilen leicht abzuhelfen ist […]

      Ich bin Lehrer der Taubstummen geworden, ohne daß ich damals wußte, daß es jemals andere vor mir gegeben hatte […] Der P. Vanin, ein sehr achtbarer Priester der Kongregation der Christlichen Lehre, hatte vermittelst Bilder (einem an sich sehr schwachen und ungewissen Hilfsmittel) den Unterricht von zwei taubstumm geborenen Zwillingsschwestern begonnen. Als dieser barmherzige Geistliche gestorben war, blieben die beiden armen Mädchen ohne alle Hilfe […] Da ich nun fürchtete, daß diese beiden Kinder ohne Kenntnis ihrer Religion leben und sterben würden, wenn ich nicht irgend ein Mittel versuchte, sie zu unterrichten, wurde ich von Mitleid für sie gerührt und ließ sie mir bringen, um mein möglichstes an ihnen zu tun.“ (de l’Epée 1910, 1ff)

      Protagonist der Aufklärung

      De l’Epées ungeheurer pädagogischer Optimismus, gepaart mit religiösen Motiven, galt in erster Linie nicht den Kindern aus besseren Kreisen, sondern jenen aus den unteren Volksschichten, die bislang von allen besonderen Bildungsbemühungen ausgeschlossen waren. Durch diese Betonung des sozialpolitischen Aspektes seiner Aktivitäten, durch die Forderung nach gleichen Menschen- und Bildungsrechten auch für die Vernachlässigten, erwies sich de l’Epée als ein wahrer Protagonist der Aufklärung:

      „Die Taubheit ist ein Elend, dem Personen jeden Standes und jeden Berufes verfallen sind. Wir haben unter unsern Schülern vornehme und reiche, aber auch arme und solche aus der Hefe des Volkes. Daß wir den ersteren alle Arten von Kenntnissen geben, die sie verstehen können, damit wird man wohl ohne Zweifel einverstanden sein. Nun wohl, so muß man, was man auch dazu sagen möge, dulden, daß die anderen sie in Gesellschaft miterwerben können. Das ist um so gerechter, als die Reichen nur bei mir geduldet werden. Nicht ihnen, sondern den Armen habe ich mich gewidmet. Ohne diese würde ich niemals den Unterricht der Taubstummen übernommen haben. Die Reichen haben die Mittel, einen Lehrer für ihre Kinder zu suchen und zu bezahlen.“ (de l’Epée 1910, 90)

      erste Unterrichts- versuche

      De l’Epée begann seine ersten Unterrichtsversuche in seinem Privathaus in der Rue des