Wohlthätigkeit zu üben und aus diesem Grunde diese blinden Kinder vorzüglich für ihre Kinder zu wählen. Ich habe ein paar, von ihnen unterrichtete, Kinder gesehen, die einige Fragen aus der Religion, Moral, Geschichte und Geographie sehr fertig beantworteten.“ (Schulz 1791, 188f)
Lehrplan Blindenschule
Es leuchtet unmittelbar ein, dass Haüy, nicht anders als de l’Epée, alles daran setzte, seine Unterrichtsanstalt unter staatliche Aufsicht zu stellen, nicht zuletzt um dem finanziellen Ruin zu entgehen. Dabei schwebte ihm gleichfalls vorrangig der Charakter einer Schule, weniger der einer Arbeitsanstalt vor. Hiervon zeugt die öffentliche Prüfung im Pariser Rathaus von 1790, deren Programm aus folgenden Punkten bestand:
➥ Protokollverlesung,
➥ Instrumentalmusik der Blinden,
➥ Schreibdiktat für einen Blinden,
➥ Lesen,
➥ Rechnen, Lesen von taktiler Musiknotation,
➥ Schreiben in Schwarz- und in Reliefschrift,
➥ Drucken von Text und Musik in Schwarz- und Reliefdruck,
➥ Unterricht sehender Kinder durch Blinde,
➥ Darstellung von Produkten und gleichzeitig demonstrierte Anfertigung handwerklicher Arbeiten,
➥ Vortrag eigener Poesie,
➥ Geographie,
➥ Musik von Gossec.6
Die überlieferten Kritiken dieser Veranstaltung attestierten Haüy uneingeschränkt große Erfolge hinsichtlich der erworbenen Kenntnisse seiner Schüler, insbesondere im Lesen, der Musiknotationen, aber auch in der Unterrichtung sehender Schüler durch blinde „Lehrer“.
Verstaatlichung
1791 wurden, wie bereits erwähnt, die Blinden- und die Taubstummenanstalt verstaatlicht. Zugleich verordnete die Nationalversammlung die Zusammenlegung beider Einrichtungen, was allerdings nicht die erhoffte finanzielle Rettung der Blindenanstalt bewirkte, wohl aber eine unüberbrückbare feindschaftliche Rivalität zwischen Haüy und Sicard (Weygand 2003, 161ff). Die Zusammenführung wurde bereits 1794 wieder aufgehoben, und die Gehörlosen unter der Leitung Sicards zogen in ein neues Lokal in der Rue St. Jacques – der Ort, an dem die Pariser Gehörlosenschule noch heute ansässig ist.
Blindenanstalt in Not
1795 wandten sich Haüy und sein zweiter Lehrer mit einer Petition an den Nationalkonvent, in der sie sehr eindringlich die Hungersnot in ihrer Anstalt schilderten, die bereits Todesopfer gefordert hatte. Trotz der ungenügenden finanziellen Ausstattung während all der Jahre gelang es Haüy dennoch immer wieder, seine Blindenanstalt über Wasser zu halten und den blinden Menschen ein Mindestmaß an Bildung sowie eine Existenzgrundlage zu verschaffen.
Ernst Moritz Arndt
Ernst Moritz Arndt, der während seiner Reisen 1798 und 1799 auch die Blindenanstalt von Paris besuchte, zeichnet in seinem Reisebericht das Bild einer Art Selbsthilfe- und Überlebensgemeinschaft, wenn er schreibt:
„Den Namen, blinde Arbeiter, führen sie nicht blos als eine Zierde, sondern ihre ganze Einrichtung und Subsistenz ist auf Arbeitsamkeit und Industrie berechnet […] Man wundert sich gewiß, wenn ich erzähle, daß die Oekonomie, das Rechnungswesen, der Einkauf der Materialien, und der Verkauf der Produkte ihrer Arbeit von einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft verwaltet, und gut verwaltet wird. Noch mehr wird man sich wundern, wenn ich erzähle, daß unter diesen Bürgern der Republik in ihrem kleinen Staate mehrere Blinde in der Ehe leben […] Diese guten Leute zeugen sich denn mit Gottes Hülfe sehende Kinder, und haben Leiter für ihre alten Tage […] Es sind hier Knaben und Mädchen, Jünglinge und Jungfrauen, Männer und Weiber unter einander, und alles wird durch die Bande der Liebe in Zucht und Ordnung verbunden. Durch rastlose Thätigkeit sucht diese kleine Kolonie ihren Zustand zu verbessern, und zu dem Wenigen, was der Staat für sie thun kann, sich noch einige Freuden und Vergnügungen zu verschaffen. Sie lernen das Lesen, Schreiben und Rechnen sich selbst, und gaben uns davon seltne Proben; ihre Bücher, Musikalien und eine Art Landkarten drucken sie sich selbst auf dickes Papier mit erhabnen Lettern, so, daß die eine Seite leer bleibt.“ (Arndt 1802, 204ff)
existenzsichernde Maßnahmen
Insgesamt waren es die folgenden Maßnahmen, die im Einzelnen dazu beitrugen, das Fortbestehen der Blindenanstalt zu gewährleisten:
➥ manuelle Arbeiten und deren Verkauf im eigenen Laden und auf Ausstellungen,
➥ Druck von kleinen Schriftstücken gemäß Aufträgen,
➥ Unterricht sehender Kinder, wobei alle Inhalte, mit Ausnahme von Schrift und Zeichnen, durch blinde Lehrer unterrichtet wurden,
➥ musikalische Darbietungen in Gottesdiensten,
➥ Anstellung blinder Musiker für private festliche Anlässe,
➥ Auftritt eines Orchesters blinder Musiker,
➥ Unterrichtung blinder (zahlender) Kinder aus reichem Hause.
Niedergang der Blindenanstalt
Die 1800 verfügte Zusammenlegung der Blindenanstalt mit dem „Hospice des Quinze-Vingts“, dem Hospiz für ältere Blinde, läutete den Niedergang der Blindenanstalt als Bildungseinrichtung ein und damit auch das Ende der Tätigkeit Haüys in dieser Institution. Unverhohlen und eindeutig begründete der Innenminister die Zusammenführung beider Institute mit ausschließlich ökonomischen Motiven. So teilte er 1802 der Blindenversorgungsanstalt mit, dass aus Gründen der Kostenersparnis die überwiegende Zeit den Handarbeiten zu widmen sei, der Unterricht hingegen auf nur zwei Stunden pro Tag reduziert würde. Haüy erhob Einspruch gegen die Übersiedlung der Blindenanstalt und ihre damit verbundene Zerschlagung, aber sein Einspruch blieb erfolglos – im Gegenteil, Minister Chaptal beeilte sich, die geplante organisatorische Maßnahme sogar als einen pädagogischen Erfolg auszugeben, da nun doch die Bewohner des Versorgungsheims an den Arbeiten der jungen blinden Menschen beteiligt werden könnten.
Entlassung Haüys
Nach viermonatigem Widerstand musste sich Haüy geschlagen geben. Das staatliche Blindeninstitut zog im Februar 1801 in das Gebäude des Hospice des Quinze-Vingts, und nur ein Jahr später erreichte Innenminister Chaptal, dass der verhasste Revolutionär Haüy seines Amtes enthoben wurde. Die jungen blinden Menschen erwartete für die kommenden Jahre ein ghettoartiges Überwachungssystem, das durch Strafe, Kontrolle und Arbeit bestimmt war und nur noch schemenhaft an eine Bildungseinrichtung erinnerte. Nach dem Urteil Weygands (2003, 299) war dies ein Rückschritt in die Zeit vor Haüys Schulgründung im Jahre 1785, als ausschließlich begüterte Taubstumme in den Genuss von Bildung gelangt waren.
Auch die Fachwelt brachte der politischen Entscheidung kein Verständnis entgegen und verurteilte sie scharf. In den „Französischen Miscellen“ wurde Heilmann, ein ehemaliger Schüler Haüys und später dessen Nachfolger als Direktor des „Musée des aveugles“, mit seiner Kritik sehr deutlich:
„Man wies ihn [gemeint ist Haüy, E.-R.] zwar mit einer ehrenvollen Pension zurück, unter dem Vorwand, dass es besser wäre, die Blinden Handarbeiten, als Künste und Wissenschaften zu lehren. Diese zuvor mit Wissenschaften beschäftigten Menschen, wurden nun zum Spinnen und Weben angehalten, auch errichtete man ihnen eine Tabakfabrik, auf welcher sie einen kümmerlichen Unterhalt verdienten. Die Neider des Herrn Haüy trugen kein Bedenken, auszusprechen, dass die Blinden durch die Natur nicht zu den Künsten und Wissenschaften, sondern nur zu den groben Handarbeiten bestimmt wären, und dass man ihnen nur soviel Unterhalt geben müsste, dass sie verhindert würden zu sterben.“ (Heilmann 1804, 125f)
Haüy in St. Petersburg und Berlin
Nach seiner Entlassung gründete Haüy 1802 erneut eine private