Sieglind Ellger-Rüttgardt

Geschichte der Sonderpädagogik


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2006b).

      Aufgabe von Gleichheitsideal

      Aber auch die ideelle Basis erwies sich als brüchig, denn die uneingeschränkte Anerkennung von Menschen mit einer Behinderung als gleichwertig war noch keineswegs Gemeingut. Mit der Diskreditierung des revolutionären Gleichheitsideals durch Restauration und staatliche sowie kirchliche Reaktion wurde folgerichtig der Personenwert behinderter Menschen erneut in Frage gestellt. Hierauf deuten Äußerungen Sicards bzw. Guilliés hin, die den Taubstummen in seinem „natürlichen“ Zustand mit einer beweglichen Maschine verglichen, welche in ihrer Organisation unterhalb der Tiere stehe, oder aber den Blinden als ein Wesen ohne Moral und nur mit einer rudimentären Gefühlswelt ausgestattet betrachteten (Hofer-Sieber 2000, 276ff; Weygand 2003, 321).

      Mit derartigen Charakterisierungen erfolgte nicht nur ein Rückschritt in den Bildungsanstrengungen für behinderte Menschen, sondern zugleich ein Rückfall in eine partikularistische und exkludierende Anthropologie. Somit manifestierte sich noch vor der Wende zum 19. Jahrhundert in den ersten Bildungsinstituten für Menschen mit Behinderung auf französischem Boden eine Abkehr vom Ideal der allgemeinen Menschenbildung. Die Kehrseite einer Pädagogik der Aufklärung, die auf ökonomische Nützlichkeit und soziale Kontrolle setzte, wurde zunehmend gesellschaftliche Praxis.

      Kaiser Joseph II.

      Das Urteil Paul Schumanns, dass die Wirkung Michel de l’Epées nicht auf Frankreich begrenzt sei, sondern „alle Kulturnationen“ von ihm lernten (1940, 131f), trifft in ganz besonderem Maße für die Gründung der Wiener Taubstummenanstalt zu. Ihr Initiator und Förderer, der aufgeklärte Monarch Joseph II., Bruder der französischen Königin Marie Antoinette und damit Schwager Ludwig des XVI., hatte anlässlich seines Besuchs in Paris 1777 nicht nur von der Taubstummenschule de l’Epées erfahren, sondern diese auch selbst besucht (Schumann 1940, 196; Schott 1995, 54f).

      Friedrich Stork Joseph May

      Nach Wien zurückgekehrt, beauftragte Joseph II. Kardinal Migazzi mit der Benennung eines geeigneten Leiters für die zu gründende Anstalt. Dieser entschied sich für den Priester Friedrich Stork (1746–1823), dem er als Gehilfen den Lehrer Joseph May an die Seite stellte. Das von Kaiser Joseph II. 1779 eingerichtete k. k. Taubstummen-Institut, das zunächst für nur zwölf Zöglinge vorgesehen war, fiel – und hier sehen wir den Unterschied zu Frankreich – in die Zuständigkeit der für die Unterrichtsangelegenheiten in der Monarchie zuständigen Studienhofkommission. Die Finanzierung des Instituts teilten sich zwei Institutionen: für die Besoldung zeichnete die Hofkammer verantwortlich, während für den Unterrichtsraum die „Milde Stiftungs-Hof-Kommission“ aufkam. Die Kosten für den Unterricht der kaiserlich-königlichen Zöglinge wurden ebenfalls durch diese Behörde getragen.

      staatliche Verantwortung

      Die Anfänge der Institutionalisierung in Wien verdeutlichen, wie groß die Unterschiede zu Paris waren. Hier in Wien war es keine Privatperson, die die Initiative ergriff und stets um die finanzielle Absicherung der Einrichtung kämpfen musste, sondern die Spitze des Staates, die das Vorhaben ideell und auch materiell in ausreichender Weise unterstützte:

      „Somit waren Stork und May die ersten staatlich angestellten Gehörlosenlehrer und das k. k. Taubstummen-Institut die erste staatliche Gehörlosenanstalt. Das Jahresgehalt von 800 fl (Gulden) für Stork entsprach der damaligen Norm für den etwas angehobenen Staatsdienst. Der ‚kaiserliche Compositeur‘ Wolfgang Amadeus Mozart erhielt bekanntlich ein ebenso hohes Jahresgehalt.“ (Schott 1995, 60)

      Charakteristisch für die Wiener Gründung war auch, dass sie keineswegs nur auf den Großraum Wien beschränkt bleiben sollte. Sogenannte „Circulare“ wurden in allen Ämtern der Kronländer bekannt gegeben, um auf die neu errichtete Anstalt für Taubstumme in Wien aufmerksam zu machen. Schon bald war die Kapazität der zwölf Plätze überschritten.

      Bereits im November 1779 erstattete Stork der Studienhofkommission einen Bericht über die von ihm „unterrichteten Tauben und Stummen“, in dem die folgenden Zöglinge mit den Angaben ihrer sozialen Herkunft und der Einschätzung ihrer Fähigkeiten aufgeführt sind (s. Tab. 2.1).

„Allerunterthänigster Bericht Johann Friedrichs Stork des erzbischöflichen Kur Priester Über die von Ihm im Monathe November 1779 unterwiesenen Taubstummen
Namen der Taubstummen Fähigkeiten und Fleiß
Josepha Fräulein von Gudenus alt 25 Jahr Sehr gut
Christoph Wachterk. k. Thürhüters Sohn, alt 19 Jahr Sehr guter thut sich unter allen Schülern am meisten hervor
Veit Kreilitzk. k. Zögling, alt 38 Jahr Gut,er könnte aber seiner Fähigkeit nach fleißiger seyn
Joseph Okowalskyk. k. Trabantens Sohn, alt 21 Jahr Sehr gut
Bartholomäus Kramerin der Versorgung im Bürgerspitale, alt 24 Jahr Sehr gut
Franz HeinrichTagwerkers Sohn, alt 13 Jahr, sehr arm Sehr gut
Johann KramerBürgerl. Wollzeugmachers Sohn, alt 9 Jahr Sehr gut
Franz ReithSchustermeisters Sohn, alt 9 Jahr Gut
Anna FegerlSchneiders Wittib Tochter, alt 22 Jahr Gut besonders im Schreiben
Aloysia Okowalskyeine Schwester des vorigen, alt 11 Jahr Sehr gut
Theresia Fräulein von PrinaSchwester der Frau Hofrätin von Braun, alt 32 Jahr Gut auf ihre schwach Gedächtniß
Aloysius WeinerTagswerkers Sohn, alt 10 Jahr Mittelmäßig
Peter MollBedientens Wittib Sohn, alt 12 Jahr Sehr nachläßig in Schulgehen
Thekla N.Ein Findling, alt bey 20 Jahr Etwas blöd, aber emsig
Anton LinzMüllerknechts Sohn, alt 13 Jahr Etwas dumm
Maria Anna Pöschl, alt 19 JahrUndMaria Anna Hörner, alt 17 Jahrbeyde k. k. ZöglingeSumma 17 GutFür den Anfang sehr gut
J. Friedrich Storkk. k. Lehrer der Tauben und Stummen“

      öffentliche Prüfung

      Nach Verlautbarung der „Wiener Zeitung“ vom 22. Dezember 1779 fand die erste genehmigte und öffentliche Prüfung der Zöglinge im Beisein „hochgestellter Persönlichkeiten“ der Wiener Gesellschaft statt. Stork hatte sogenannte „Prüfungszettel“ vorbereiten und drucken lassen, die den Lehrstoff der Prüfung enthielten und die jedem Besucher überreicht wurden.

      Sowohl Stork als auch May kannten den Unterricht de l’Epées aus eigener Anschauung. Joseph May war mehrere Jahre als Deutschlehrer an der Pariser Militärakademie tätig gewesen und hospitierte