Sieglind Ellger-Rüttgardt

Geschichte der Sonderpädagogik


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es nur naheliegend, dass die Wiener Anstalt die Methode de l’Epées übernahm – allerdings mit der Ausnahme, dass Lehrer May bereits frühzeitig mit einem Artikulationsunterricht begann. Diese Bemühungen und ihre offenbar günstigen Resultate wurden anlässlich einer weiteren öffentlichen Vorführung im Jahre 1780 dem erstaunten und begeisterten Publikum präsentiert. Die Reaktion des Kaisers bestand darin, May eine Gehaltserhöhung von 100 fl Gulden zu gewähren.

      Mit dem Dekret vom 8. September 1784 legte Joseph II. fest, dass die Zahl der Zöglinge auf 30 zu erhöhen sei, allerdings mit dem Zusatz, dass diese bei Schülern mit besonderen Fähigkeiten auch überschritten werden dürfe. Schon nach kurzer Zeit befanden sich 31 männliche und 16 weibliche Zöglinge im Taubstummeninstitut von Wien.

      Johann Strommer

      Allerdings kam es schon bald zu Konflikten zwischen Stork und May, die vor allem auf unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich des Unterrichts Gehörloser beruhten. Die Kritik an der Unterrichtsmethode Storks verschärfte sich, als 1783 ein dritter Lehrer, Johann Strommer, eingestellt wurde. May und Strommer hatten der Studienhofkommission berichtet, dass Stork das ganze Jahr über nur die Fragen und Antworten unterrichtete, die er für die öffentlichen Prüfungen bestimmte. Die Schüler wüssten bereits vor der Prüfung die Antworten auswendig, und auf diese Weise würde Stork das Publikum täuschen.

      Entlassung Storks und Methodenwechsel

      Die Kritik an Stork zielte zugleich auf die Methode seines Vorbildes de l’Epée, dessen Verfahren nun grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Der Methode de l’Epées wurde der Vorwurf gemacht, dass sie weder das Sprachverständnis Gehörloser befördere noch die gesellschaftliche Kommunikation und damit die gesellschaftliche Eingliederung der Betroffenen bewirke. Am 28. September 1792 wurde Direktor Stork von seinem Amt entfernt und an seine Stelle der Lehrer Joseph May berufen;9 damit war zugleich ein Wechsel in der Methode des Unterrichts zugunsten einer stärkeren Beachtung der Lautsprache entschieden.

      Ziel: bürgerliche Brauchbarkeit

      Mit dem Wechsel in der Leitung der Wiener Taubstummenanstalt von Stork zu May war aber auch die erste Institutionalisierungsetappe des Wiener Taubstummeninstituts abgeschlossen. Die Wiener Anstalt verdankte ihre Entstehung und weitere Entwicklung großzügiger staatlicher Unterstützung, wobei ihr vorrangiges Ziel nicht in erster Linie eine zweckfreie Entfaltung der persönlichen Kräfte des einzelnen Zöglings, sondern die Vorbereitung auf ein späteres Erwerbsleben war. Die 1793 für das Taubstummeninstitut erlassenen Grundsätze belegen unmissverständlich, dass Auswahl der Zöglinge und Zweck der Anstalt dem übergeordneten Ziel der Erziehung zur bürgerlichen Brauchbarkeit dienten:

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      „1. Der Endzweck, den der Staat durch das k. k. Taubstummen-Institut zu erreichen sucht, ist gehör- und sprachlosen Kindern nach einer eigenen, ihren Organisations-Fehlern angemessenen Lehrart, Unterricht und Übungen in gemeinnützlichen, und zum bürgerlichen Leben unentbehrlichen Kenntnissen so lange zu verschaffen, bis sie imstande sind, sich selbst ihren Lebensunterhalt zu erwerben, und wieder anderen Unglücklichen dieser Art im Institute Platz zu machen.“

      Hinsichtlich der weiblichen Taubstummen heißt es unter Punkt 10:

      „Die weiblichen taubstummen Zöglinge müssen in allen weiblichen Arbeiten, als Nähen, Stricken, Märken, Spinnen, Kochen u. s.w. unterrichtet, und dadurch in Stand gesetzt werden, bey dem Austritte aus dem Institute sich selbst ihren Unterhalt bey ihren Ältern oder in Diensten auf die thunlichste Weise zu verschaffen.“10

      Ausrichtung auf Erwerbsleben

      Entsprechend der utilitaristischen Zielsetzung war auch der Unterricht nicht für alle Schüler gleich. Die Zöglinge wurden vielmehr in drei Klassen aufgeteilt: Die erste Klasse hatte täglich vier Unterrichtsstunden und sechs Handarbeitsstunden, die zweite Klasse drei Unterrichts- und acht Handarbeitsstunden, und die dritte erhielt schließlich nur zwei Unterrichtsstunden, arbeitete die übrige Zeit jedoch in- oder außerhalb des Instituts bei ihrem Lehrherren. Mit der Ausrichtung auf das Erwerbs- und Arbeitsleben in der Ära nach Joseph II. reihte sich auch das Wiener Taubstummeninstitut in ein Bildungswesen ein, das in der Folgezeit vor allem der Bekämpfung der Armut dienen sollte (Engelbrecht 1984, 240).

      Wie de l’Epée in seinem Werk „Die Unterweisung der Taubstummen durch die methodischen Zeichen“ von 1776 erwähnt hatte, wurde tatsächlich im Jahre 1778 durch den Kurfürsten Friedrich August von Sachsen in Leipzig das erste Taubstummeninstitut in einem deutschen Land eröffnet. Berufen zur Leitung wurde Samuel Heinicke (1727–1790), der bereits über eine mehrjährige Erfahrung in der Unterrichtung taubstummer Personen verfügte.

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      Samuel Heinicke

      Heinicke war ein glühender Verfechter der Lautsprache und geriet damit in Widerspruch zu de l’Epée, mit dem er in den Jahren 1781/82 eine fünf Briefe umfassende kontroverse Korrespondenz führte. Die Differenz zwischen Lautsprachmethode und Gebärdensprache hat hier ihren Ursprung – und sie wirkte bis in das 20. Jahrhundert fort, nationalistisch überhöht, als Gegensatz von „deutscher“ und „französischer“ Methode (List 1991).

      So veröffentlichte Paul Schumann aus Leipzig, zweifellos der beste deutschsprachige Kenner der historischen Gehörlosenpädagogik, die Früchte seiner langjährigen Forschungstätigkeit zu einer Zeit (1940), als erneut größter Wert auf die Hervorhebung des Deutschtums gelegt wurde. Die von der Reichsfachschaft V Sonderschulen im NS-Lehrerbund herausgegebene Schrift trug den Titel „Geschichte des Taubstummenwesens vom deutschen Standpunkt aus dargestellt“. Dieser kompromittierende Titel sowie die zeitgeschichtlichen Umstände hatten zur Folge, dass dieses kenntnisreiche und differenzierte wissenschaftliche Werk über lange Zeit nicht die Würdigung erhielt, die es verdient.

      Kontrahenten: de l’Epée – Heinicke

      Betrachtet man die Protagonisten und Kontrahenten de l’Epée und Heinicke, so lassen sich kaum größere Gegensätze vorstellen: auf der einen Seite der katholisch-aufklärerisch geprägte Priester de l’Epée, durch akademische Studien gebildet, gut situiert, der als alleinstehende Person über genügend Zeit verfügte, um seine selbstgewählte Aufgabe praktisch zu erproben und theoretisch zu begründen. Wir haben somit eine Person vor uns, die in großer Unabhängigkeit national und international agieren konnte. Auf der anderen Seite der vermögende Bauernsohn Samuel Heinicke aus Sachsen, pietistisch erzogen, Autodidakt, der, von großem Bildungshunger getrieben, der dörflichen Enge entfloh und als 23-Jähriger sich als Soldat bei der Leibgarde in Dresden verdingte. In seiner freien Zeit nahm er Privatunterricht in Latein, Französisch, Mathematik und Musik und begann schon während seiner Dresdner Zeit einen taubstummen Soldaten zu unterrichten und Literatur über die Erziehung und Bildung Gehörloser zu lesen.

      Biografie Heinickes

      Bei Ausbruch des Siebenjährigen Krieges floh Heinicke vor den Preußen, wurde Student in Jena (Philosophie, Mathematik, Naturlehre) und kam auf der Flucht vor den preußischen Häschern 1758 in das dänische Altona. Altona und Hamburg waren zur damaligen Zeit eine Hochburg der Aufklärung und des Philanthropismus (Overhoff 2004), und es muss angenommen werden, dass Heinicke, der sowohl in Altona als auch in Hamburg ab 1760 als Privatlehrer und Hofmeister tätig war, nicht nur Kontakt zu den Repräsentanten der aufklärerischen Reformpädagogik hatte, sondern auch wichtige Impulse von ihnen empfing. So berichten Georg und Paul Schumann (1912) in der biografischen Einleitung zu den von ihnen herausgegebenen Schriften Samuel Heinickes, dass der Druck seiner biblischen Geschichte für Taubstumme den Beifall von „angesehenen