Sieglind Ellger-Rüttgardt

Geschichte der Sonderpädagogik


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der ältesten europäischen Porzellanmanufaktur in Meißen begangen wurde: reich geschmückte Straßen und eine festliche Illumination prägten die Stadt, Turmblasen und ein gemeinsamer Gottesdienst im Dom vereinten Bürger und Porzellanarbeiter; 412 Arbeiter, Angestellte und Künstler, 22 ‚angestellte Frauenzimmer‘, 28 Pensionäre, 331 Ehefrauen und 154 Witwen waren in die Festzelte auf der Schützenwiese geladen […]

      Christian August Schlick erlebte die zweimalige Besetzung Meißens durch Napoleon (1806 und 1812/1813). Im September/Oktober 1813 stand Meißen im Zentrum der Kampfhandlungen. Nach der ‚Beschlagnahme‘ unentbehrlicher Arbeitsmittel, Werkzeuge, Brennstoffe und Feuerlöschgeräte durch preußische und russische Offiziere mußte die Arbeit in der Manufaktur im September 1813 völlig eingestellt werden […] Der in Dresden residierende russische General-Gouverneur Fürst Repin reformierte die Meißner Manufaktur radikal. Ihre Belegschaft wurde auf 328 Mitarbeiter reduziert. Christian August behielt seinen Job in der Brennerei. Aber in die neu eingeführte vier-klassige Rangordnung der Porzellanmaler […] fand er keinen Eingang […] Christian August Schlick blieb trotz angegriffener Gesundheit bis ins hohe Alter berufstätig. Im Alter von 70 Jahren […] verstarb der gehörlose Porzellanmaler ohne den Pinsel aus der Hand gelegt zu haben. Die Sterbe-Caße der Porzellanmanufaktur Meißen stellte für seine Beerdigung 70 Taler und 6 Groschen bereit.“ (Feige 1999, 51f)

      Als nach dem Tode Samuel Heinickes 1790 dessen Witwe für die weitere Existenz der Schule kämpfte, überprüfte eine Kommission, bestehend aus 30 Professoren der Leipziger Universität, die Leistungen der Schüler. Das Gutachten fiel insgesamt positiv aus, und damit war die Voraussetzung für das Fortbestehen des Instituts gegeben; nur eine Sache wurde negativ vermerkt: Die Schüler zeigten ungenügende Leistungen im Schreiben mit Feder und Tinte auf Papier.

      Tagebuch-aufzeichnungen

      Die erfindungsreiche Anna C. E. Heinicke ersann ein didaktisches Mittel, um diese Fertigkeit bei den Schülern zu üben: Sie regte zum Schreiben von Tagebüchern an. Aus den Tagebuchaufzeichnungen des Schülers Adam Ernst G. Backmann erfahren wir nicht nur etwas über den Alltag innerhalb des Taubstummeninstituts, sondern auch über die Kontakte zur Außenwelt, die sich recht liberal gestalteten.

      „Sehr beliebt war bei den Heinike’schen Pensionären das Bad in der Pleiße während der Sommermonate. Ein bevorzugter Spielplatz war der Boden des fünfstöckigen Miethauses am Neuen Kirchhof, in dem Heinicke sein Institut 1785 auf einer ganzen Etage untergebracht hatte. In Backmanns Aufzeichnungen finden sich Schilderungen von Spielen der Schüler und der Töchter Heinickes […] auf dem Boden. Außerdem diente er als ‚Ausguck‘. Von seinen Fenstern aus beobachteten Adam Ernst und seine Mitschüler die vorbeiziehenden Passanten, zumeist Handwerker oder Bauern auf dem Weg zum Markt. Seine bevorzugte Freizeitbeschäftigung waren allerdings ausgedehnte Spaziergänge in der Allee […]

      Alle seinerzeit berühmten Leipziger Gärten kannte Adam Ernst. Als ‚vorzüglich verständiger‘ Lehrling durfte er ‚ohne sichere Begleitung‘ ausgehen […] den Tagebucheintragungen nach zu schließen, nutzte er dieses Privileg ausgiebig. Überall beobachtete er die Mitbürger genau bei ihren Verrichtungen. ‚Ich habe gestern viel nackende Menschen gesehen‘, notierte er unter dem 18. Juni 1790, ‚sie hatten Hemde, Schuhschnallen, Hoth, Strümpfe, Halstuch und alle Kleider ausgezogen, badeten sich im Wasser und gingen hernach spazieren, wenn sie sich wieder angezogen hatten‘ […] Wichtig war ihm, wie ihm bekannte Personen gegenübertraten: ob sie grüßten zum Beispiel. Lobend erwähnt wurde ein Bauer namens Rudolph aus dem Heimatdorf Grethen, den Adam Ernst eines Sonntagmorgens 5 Uhr in der Grimmaischen Gasse traf: ‚Er hat den Hut vor mir abgenommen‘ […]

      Als ältester ‚Lehrling‘ im Heinicke-Institut genoss Adam Ernst Backmann gewisse Vorrechte. So durfte er den Lehrer Petschke begleiten, wenn dieser für das Institut einkaufen ging. Ihm war der Schlüssel für die Speisekammer der Pension anvertraut. Zuweilen ließ er sich von der Mitschülerin Anna Dorothea Richter oder dem Mitschüler Johann Christoph Hofmann dazu verleiten, den begehrten (Kandis-)Zucker zu verteilen, wenn Madame Heinicke schlief […] Zusammen mit Christian Friedrich Irmscher wurde Adam Ernst zur Erledigung kleinerer handwerklicher Tätigkeiten in den Räumlichkeiten des Instituts herangezogen.

      Adam Ernst Gottlieb Backmanns Schulzeit in Leipzig endete am 27. Januar 1792. Er mußte das Institut A. C. E. Heinickes ohne förmlichen Abschluß und ohne Konfirmationsexamen verlassen, ‚weil ihm sein Vater, ehe dieses geschehen konnte, eine Stelle in Meißen bei der dasigen Porzellanfabrike … ausbedungen hatte‘ […] wie in der Matrikel nachzulesen ist. Frau Heinicke hat das bedauert. Ihrem ehemaligen Schüler bescheinigte sie abschließend, ‚seine Gedanken ziemlich correct zu Papier bringen, auch sonst fleißig und ein guter Kopf‘ zu sein […] Den Ausbildungsplatz in Meißen hat der Vater vermutlich unter Vorlage der Blumenzeichnungen seines Sohnes erwirkt.“ (Feige 1999, 68ff)

      Diese durch Selbstzeugnisse beschriebene familiäre und zugleich bildungsorientierte Lebenssituation der Leipziger Zöglinge beeindruckt als ein positives Beispiel für die ersten Bildungsanstrengungen mit behinderten Kindern und Jugendlichen – vielleicht war es sogar eine Ausnahme.

      Gefährdung von Menschen mit Behinderung in Notzeiten

      Zu einem Zeitpunkt, zu dem noch längst nicht für alle Kinder und Jugendliche Bildungsangebote bereitgestellt wurden, verwundert es nicht, dass die ersten planmäßigen Unterrichtsversuche für Schüler mit Behinderung zunächst in eher bescheidenen Bahnen verliefen. Die beiden Pariser Anstalten, wir erinnern uns, sind hierfür beispielhaft; denn sie waren fortwährend durch materiellen Mangel und immer weiteres Zurückdrängen des Bildungsanspruchs bestimmt. Aber auch in anderen Ländern zeigte sich das Phänomen, dass in Not- und Mangelsituationen jene am weitesten an den Rand gedrängt werden, die am bedürftigsten sind.

      Gehörlosenschule Madrid

      Als Napoleon Spanien besetzte und die Bevölkerung unter Entbehrung und Hunger litt, traf dies besonders stark jene junge Institution, die 1805 als staatlich unterstützte Taubstummenschule in Madrid ihre Tore geöffnet hatte. In nahezu aussichtsloser Situation siedelte der gehörlose Kunstlehrer Roberto Francisco Prádez 1811 mit sechs gehörlosen Schülern an die städtische Schule von San Ildefonso über, und der Bericht hierüber lautet:

      „Dort erwartete sie ein kühler Empfang. Da die gehörlosen Jugendlichen deutlich älter waren als die Kinder an der städtischen Schule, befürchtete man, daß sie einen schlechten Einfluß ausüben könnten. Deshalb wurde rigoros die totale Trennung der beiden Gruppen durchgesetzt. Die Verbindungstür vom Zimmer der gehörlosen Schüler zum Rest der Schule wurde von außen verschlossen, der Schlüssel wurde fortgenommen und obendrein wurde noch ein Riegel über die Außenseite genagelt […] Obwohl sich auf dem Schulgrundstück ein Brunnen befand, wurde Prádez und seinen Schülern der Zugang zu diesem verweigert, und sie mußten Wasser aus einem öffentlichen Brunnen in der Nachbarschaft holen […] Sie durften nicht im Speisesaal der Schule essen, und ihre Verpflegung, zwei magere Mahlzeiten pro Tag, wurde in einem öffentlichen Gasthaus zubereitet […] Die Kinder waren barfuß, ihre ungewaschenen Kleider zu Lumpen heruntergekommen […] In einen einzigen Raum eingesperrt waren sie wie Gefangene in San Ildefonso. In derartigen Umständen fand ein Beobachter, es sei nicht […] verwunderlich, daß sie sich damit unterhalten, ihr Quartier zu ruinieren, indem sie alles in den Abort werfen, was ihnen in die Finger kommt, nachdem sie ihn vollkommen zerschlagen und den Abfluß mit Knochen, Steinen und Schutt verstopft haben.“ (Plann 1993, 75)

      Dennoch, nachdem die ersten Schulgründungen für Gehörlose und Blinde erfolgt waren, war die Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen international nicht mehr aufzuhalten:

      erste Schulgründungen

      Schulen für Gehörlose

      1763: Paris, Edinburgh

      1778: Leipzig, Wien

      1784: Rom

      1786: Prag

      1787: Bordeaux

      1788: Berlin

      1790: Groningen

      1800: Waitzen (Vác/Ungarn),