M. Paradis
Methoden bei Blindheit: Was die Methode zur Unterrichtung Blinder betraf, so lagen die Dinge hier wesentlich einfacher. Als Haüy mit seinen Überlegungen begann, hatte er nicht nur wesentliche Anregungen durch Diderots Brief über die Blinden erfahren, sondern aus eigener Anschauung miterlebt, in welch erstaunlichem Maße eine blinde Person über intellektuelle und musische Fähigkeiten verfügte.
Maria Theresia Paradis
Am 1. April 1784 trat die blinde Pianistin und Komponistin Maria Theresia Paradis aus Wien zu öffentlichen Konzerten in Paris auf, und ihre Präsentationen wurden umgehend zum Stadtgespräch. In Alexander Mells Handbuch des Blindenwesens von 1900 lesen wir über sie:
„Sie wurde in allen Städten, wo sie auftrat, Mittelpunkt der Gesellschaft; die berühmtesten Personen der Zeit, Gelehrte, Musiker, Dichter, Staatsmänner suchten ihren Umgang, um sich an ihrem geistreichen Gespräche, an ihren feinen gesellschaftlichen Formen zu erfreuen. Nichts erinnerte, wenn sie saß, an ihr Unglück.“ (Mell 1900, 577)
Paradis’ Hilfsmittel
Maria Paradis, ein Patenkind der österreichischen Kaiserin Maria Theresia und „Mozarts berühmte Zeitgenossin“ (Fürst 2005) war nicht nur eine exzellente Musikerin und Komponistin, sondern zugleich eine allseits gebildete Persönlichkeit. Sie vermochte sich mit Hilfe einer kleinen Handpresse schriftlich mitzuteilen, verfügte über geografische Karten, konnte Karten und Schach spielen sowie mit Hilfe besonderer Tafeln rechnen. Die dafür notwendigen Hilfsmittel hatte sie, wir erwähnten es bereits, durch ihre Kontakte zu dem Blinden Johann Ludwig Weissenburg, Sohn eines Kammerdieners aus Mannheim, erhalten, der aufgrund seiner Begabung insbesondere in Mathematik ausgebildet worden war.
Grundlegend für die Unterrichtung blinder Menschen war die Erkenntnis, dass der fehlende Gesichtssinn durch den des Tastens zu ersetzen sei, und alle Kunst bestand darin, Hilfsmittel zu erfinden, die den Tastsinn für die Anbahnung von Lernprozessen nutzbar machten.
Leselernprozess
Haüy hat in seinem 1786 erschienenen Werk „Essai sur l’éducation des aveugles“ (Abhandlung über die Erziehung Blinder) beschrieben, welche Mittel er für den Leselernprozess seiner blinden Schüler einsetzte, wobei er ausdrücklich auf die Hilfsmittel der Maria Paradis sowie J. L. Weissenburgs verwies:
„Durch das Lesen wird das Gedächtniss leicht, rasch und methodisch ausgebildet. Es ist der Canal, durch welchen wir verschiedene Kenntnisse erlangen. Unsere hauptsächlichste Sorgfalt muss daher darauf gerichtet sein, die Blinden lesen zu lehren und für ihren Gebrauch eine Bibliothek herzustellen. Früher hat man in dieser Hinsicht verschiedene vergebliche Versuche gemacht. Man lehrte den Blinden lesen durch Buchstaben, die erhaben und beweglich auf einer Platte waren, oder indem man Buchstaben anwandte, die auf eine Karte durch Nadelstiche gebildet waren. Schon erschlossen sich ihnen die Wunder der Schreibkunst […] Aber diese rohen Hülfsmittel gaben dem Blinden nur die Möglichkeit, den Reiz der Lectüre empfinden zu lassen, ohne ihm die Mittel derselben zu gewähren. Wir fanden dieselben ohne Mühe, ihr Princip existirte schon lange, und täglich machte es sich vor unsern Augen geltend.
Wir beobachteten, dass ein bedrucktes Blatt beim Verlassen der Presse auf der Rückseite alle Buchstaben in relief zeigte, aber verkehrt. Wir liessen Buchstaben giessen, die so beschaffen waren, dass ihr Abdruck auf Papier von den Augen wahrgenommen werden kann, und mit Hülfe eines nach Art der Buchdrucker angefeuchteten Papiers gelang es uns, das erste Exemplar abzuziehen, das bisher mit erhabenen Buchstaben erschienen war, welche durch das Gefühl unterschieden werden konnten. Das war der Ursprung der Bibliothek für die Blinden […]
Vom Lesen des Gedruckten bis zu dem des Geschriebenen hat der Blinde nur einen Schritt zu thun. Wir sprechen hier nicht von der Schrift der Sehenden; wir haben bis zu diesem Tage vergebens den Gebrauch von Relieftinten versucht, und wir haben dieselben durch Schriftzüge ersetzt, die auf einem dicken Papiere vemittelst einer eisernen Feder, deren Schnabel nicht gespalten ist, erzeugt werden. Es ist unnütz zu bemerken, dass man, wenn man an einen Blinden schreibt, sich keiner Tinte bedient; dass die Buchstaben gerade, von einander getrennt und etwas dick sind, und dass man nur die eine von den zwei Seiten eines Blattes beschreibt. Wird dies beobachtet, werden die Blinden leidlich fliessend die Cursivschrift der Sehenden, ihre eigene und die anderer Blinden lesen. Ausserdem werden sie auf dem Papiere ebenso die Musiknoten und andere Figuren unterscheiden, welche durch unser Verfahren fühlbar gemacht worden sind.“ (Haüy 1883, 2ff)
Haüys Auftritt mit blindem Schüler
Der 17-jährige François Le Sueur war Haüys erster Schüler, mit dem er bald den Beweis seiner Unterrichtserfolge öffentlich machte. Alexander Mell hat uns in Dokumenten die Entstehungsgeschichte der Pariser Blindenanstalt übermittelt und dabei auch den Auftritt Haüys mit seinem Schüler im „Bureau Académique d’Ecriture“ wiedergegeben:
„Herr Haüy ließ sodann seinen Schüler Uebungen ausführen. Der Herr Generalleutnant der Polizei hatte ein Buch aufgeschlagen und gab daraus einige Wörter an, die sofort auf die Tafel gebracht wurden; und der junge Le Sueur las, nachdem er die Fingerspitzen über die Buchstaben hatte gleiten lassen, mit lauter Stimme: ‚Tableau de la Maison du Roi‘. Er führte mit demselben Verfahren die Addition mehrerer Zahlensummen, die man auf die Tafel eingetragen hatte, aus. Man nahm auch aufs Geratewohl einige Lettern, Buchstaben and Ziffern gemischt; man druckte sie auf ein Papier ab und der junge Mann brachte es zuwege, sie zu nennen, wenngleich mit etwas Mühe; was nicht überraschen darf, weil man, abgesehen davon, daß diese Lettern keinerlei Sinn bildeten, es darauf angelegt hatte, sie ohne Ordnung vorzulegen und einige davon sogar umzukehren. Er bewegte sich ebenso auf mehreren geographischen Karten, die man ihm gab und auf denen die Grenzen der verschiedenen Länder durch eine Menge von Nadelstichen, die den Konturen folgten, tastbar gemacht worden waren. Le Sueur erkannte die einzelnen Provinzen, auf die man seine Hand legte, und nannte gleichzeitig die Hauptstädte dieser Provinzen. Er unterschied ebenfalls die Musikzeichen, indem er der Reihe nach sowohl die Stufe, die sie in der Tonleiter einnahmen, als auch die Ausdrücke, die ihre verhältnismäßigen Werte angaben, benannte […]
Man vergegenwärtige sich, daß dieser junge Mann noch vor sechs Monaten in tiefer Unwissenheit steckte; daß er, geboren ohne Vermögen und genötigt, um die Unterstützungen betteln zu gehen, die er mit seiner Familie teilt, täglich nur ein paar Augenblicke dem Studium widmen kann; man vergleiche mit seinen Fortschritten selbst jene, die in einem gleichen Zeitraum ein junger Mann macht, der sich aller seiner Sinne und der Muße, die Wohlhabenheit gewährt, erfreut, und man wird ermessen, wie berechtigt sowohl die Befriedigung der hochgebildeten Beamten, die sich an der Spitze der Versammlung befanden, als auch die Beifallsbezeugungen waren, die die Zuseher den Erfolgen der erfinderischen und wohltätigen Bemühungen des Herrn Haüy verschwenderisch spendeten. Man wird schließlich folgern, wie interessant eine Anstalt wäre, die die des Gesichtssinnes beraubten Individuen in die Lage versetzen würde, aus den für ihren Gebrauch gedruckten Büchern Kenntnisse, geeignet ihren Geist zu bilden und zu schmücken, und Reize zu schöpfen, fähig, in ihrem Herzen das Bewußtsein ihres Unglücks zu mindern oder selbst aufzuheben.“ (Mell 1952, 34f)
Louis Braille
Auch wenn es mit der Entwicklung dieser neuen Methoden zum ersten Mal gelungen war, blinden Menschen in systematischer Weise Bildungsprozesse zu vermitteln, so ist doch einschränkend anzumerken, dass diese ersten Methoden aus der Sicht der Sehenden entwickelt worden waren und letztlich nur begrenzte Kommunikationsmöglichkeiten eröffneten. Erst als Louis Braille (1809–1852), der 1819 als Zehnjähriger in der Pariser Blindenanstalt Aufnahme gefunden hatte, ein aus der Kombination von sechs Punkten bestehendes Schriftsystem erfand, war der entscheidende Schritt zur Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten blinder Menschen getan.