Sieglind Ellger-Rüttgardt

Geschichte der Sonderpädagogik


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dem Arm, in den Zipfeln meines Rockes; auf dem Rücken und auf dem Kopf; alles das im Gehen und mit der Haltung eines Menschen, der sich schwer beladen fühlt. Keine meiner Bewegungen entgeht der Aufmerksamkeit des Taubstummen. Ich gehe nun zum Tische zurück und setze, um die zweite Person zu erklären, den Zeigefinger der linken Hand auf das Wort, tu [du]; gleichzeitig richte ich den der rechten Hand gegen die Brust des Taubstummen und klopfe einige mal sanft darauf, wobei ich ihn darauf aufmerksam mache, daß ich ihn ansehe; und daß er mich auch ansehen muß. Sodann setze ich den Finger auf das Wort portes [trägst] und gebe ihm den Folioband, indem ich ihm ein Zeichen mache, nun seinerseits dasselbe zu tun, was er mich zuerst hat ausführen sehen. Er fängt an zu lachen, nimmt das Buch und richtet den Auftrag sehr gut aus.“ (de l’Epée 1910, 46f)

      Methodenstreit

      Wie schon dargelegt, obsiegte im internationalen akademischen Streit um die adäquate Unterrichtsmethode Gehörloser zunächst de l’Epée. Spätestens jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wendete sich das Blatt, und mit den Beschlüssen des Mailänder Kongresses der Taubstummenlehrer von 1880 erfolgte wiederum eine einseitige Entscheidung, nun zugunsten der Lautsprache.

      Urteil der Züricher Akademie

      Ein schweizerisches Dokument, ein Artikel aus dem Feuilleton der Neuen Züricher Zeitung von 1906, erinnert an das Urteil der Züricher Akademie über den Methodenstreit zwischen Heinicke und de l’Epée von 1783 und wirft rückblickend ein differenziertes Bild auf die scheinbar so unversöhnlichen Positionen:

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      „Zu der Eigenart des großen Abbé de l’Epée gehört, daß er wenig Widerspruch ertrug und seine Lehrweise zwar als verbesserungsfähig, aber doch als die beste der bestehenden betrachtete. Er glaubte, der Taubstumme sei vorzugsweise nur durch den Gesichtssinn zu unterrichten, daher entspreche das geschriebene und nicht das gesprochene Wort seinen Bedürfnissen; seine Muttersprache sei die Gebärdensprache, die durch methodische Zeichen so vervollkommnet werden könne, daß sie allein es ermögliche, seine geistigen Kräfte allseitig auszubilden. Nicht dass de l’Epée die Fingersprache oder das laute Sprechen vernachlässigt hätte. Von der ersten Stunde an übte er beide nach bekannter Methode; denn jene war notwendig, um das Handalphabet zu lehren, diese wegen des Verkehrs mit den Vollsinnigen […] Allein die Fingersprache und das laute Sprechen schienen ihm so einfach und für die Erfassung der übersinnlichen Begriffe so beschränkt zu sein, daß er die größte Arbeit auf die Anwendung und Ausbildung seiner methodischen Zeichen verwandte. Es waren dies teils natürliche, teils künstlich kombinierte pantomimische Beschreibungen der zu erklärenden sinnlichen oder übersinnlichen Begriffe […]

      In der Großartigkeit des Systems lag aber gerade seine Schwäche; die Fingersprache wie das eigentliche Sprechen mußten zu kurz kommen. Indem de l’Epée das Grösste wollte, die vollständige, geistige Ausbildung der Taubstummen, die ihm nur bei wenigen gelingen konnte, unterschätzte er das Nächstliegende und Einfachste, was alle Taubstummen in erster Linie nötig haben, die tägliche Umgangssprache. Abbé de l’Epée war nicht nur in seiner uneigennützigen Hingabe für die Armen, sondern auch in der groß angelegten Unterrichtsmethode Idealist.

      Einen entgegengesetzten Standpunkt nahm der Zeitgenosse Epées, der Deutsche Samuel Heinicke ein, der, ein ausgezeichneter, praktischer Schulmann, dem gesprochenen Wort die erste Stelle im Taubstummenunterricht anwies […]

      Leider hielt er, teils aus Spekulation, teils aus Furcht vor Mißbrauch, seine Methode geheim. Er ging von der richtigen Annahme aus, daß die Gedanken erst durch die Sprache gebildet werden und man somit auch im Unterricht der Taubstummen so schnell als möglich zum artikulierten Sprechen übergehen müsse. Die Lernfähigkeit der Taubstummen gründe sich auf Gesicht, Gefühl und Geschmack […] Auch er erreichte überraschende Resultate; geschickte Schüler vermochten die Worte von den Lippen abzulesen und mit Vollsinnigen zu reden. Natürlich erregten seine Tätigkeiten und Erfolge großes Aufsehen; weckten aber ebenso sehr Neugier, Mißtrauen und Verleumdung, in seiner Anstalt in Leipzig hatte er selten gleichzeitig mehr als 9 Zöglinge, die er kaum 4 Jahre behalten konnte. Auch fehlte es ihm nicht an ökonomischen Schwierigkeiten; er war und blieb arm. Dazu kam seine Reizbarkeit; denn Heinicke war eine streitbare Natur und griff Uebelstände und Personen schonungslos an, wenn sie ihm hindernd in den Weg traten. Besonders hatte er für die Mängel der Volksschule einen offenen Sinn, für die Klagen der Lehrer ein williges Ohr und auf die Anmaßungen der Geistlichen ein scharfes Auge. Er verstand es aber, nicht nur zu tadeln, sondern auch besser zu machen und darf füglich ein Vorläufer der modernen Pädagogik und Schule genannt werden […]

      Auch Heinicke überschätzte seine Lehrart und fällte deswegen über die anderen Methoden, ohne sie zu kennen, ein scharfes und ungerechtes Urteil […]

      Es wäre eine müßige Frage, zu untersuchen, wer von den beiden Taubstummenlehrern Epée und Heinicke der größere wäre: beide haben ihr ganzes Können und ihre ganze Persönlichkeit für eine erhabene Aufgabe eingesetzt. Ihre Ziele und ihre Erfolge waren nahezu die gleichen, nicht aber ihre Wege, die sie betraten. Der Streit um den Vorzug ihrer Methode konnte nicht ausgetragen werden, weil der Wert einer Methode weniger von ihr selbst abhängt, als vielmehr von der Art und Weise, wie sie ausgeübt wird. Der Buchstabe tötet, der Geist ist’s der lebendig macht. Was aber dieser literarischen Fehde besondere Bedeutung verleiht, ist, daß sie in allen Ländern zum erstenmal die öffentliche Meinung für die Bildung der Taubstummen interessierte.“ (Ernst 1906)

      In den ersten praktischen Unterrichtsversuchen, ich hatte bereits darauf hingewiesen, überwog ein pragmatisches Ausprobieren, das zwangsläufig verschiedene methodische Elemente berücksichtigte.

      Beispiel Rom

      So ging der Italiener Silvestri in der römischen Gehörlosenschule zwar von der Gebärdensprache de l’Epées aus, ergänzte sie aber um lautsprachliche Anteile. Er schrieb 1785:

      „Unser Ziel in Rom ist nicht allein, diesen armen Menschen die Sprache wiederzugeben, sondern auch, ihre wichtigste Qualität, ihren Verstand zu fördern. Zu diesem Zwecke bediene ich mich eines einfachen, natürlichen Mittels, welches der natürlichen Stärke des Taubstummen keine Gewalt antut, sondern im Gegenteil gerade die Kommunikationsform bevorzugt, mit der er […] so wohlvertraut ist, und die ihm zu Gewandtheit und Schnelligkeit verhilft. Mittels Gebärden drückt ein jeder Taubstumme seine Wünsche und Bedürfnisse vollends aus. Aus diesem Grunde hat die Schule sich die Gebärden für seine Bildung zunutze gemacht, dabei aber gewisse Korrekturen vorgenommen […] Doch um den Taubstummen wieder ganz der Gesellschaft zuzuführen, versäumt die Schule es auch nicht, ihn das Verstehen von Lippenbewegungen und die ihnen zu Grunde liegenden Gedanken zu lehren. Dies gestattet es ihm, unverzüglich und ohne andere Hilfsmittel als die lebendige Stimme zu antworten.“ (Pinna et al. 1993, 417f)

      Wiener Methode

      Die Verbindung unterschiedlicher Elemente wurde nach dem Ausscheiden Storks auch in dem Wiener Taubstummeninstitut unter der Leitung seines Nachfolgers May praktiziert. Walter Schott spricht von einer „Wiener Methode“, über die er Folgendes schreibt:

      „Die ersten Lehrer des k. k. Taubstummen-Instituts hatten […] die Gebärdenmethode des de l’Epée in Paris erlernt und in Wien zur Anwendung gebracht. Die Pariser Gebärdensprache war aber in ihrem Gebrauch so umständlich (infolge der vielen grammatikalischen Endungen, Ableitungen usw.), daß sie als Kommunikationsmittel für den alltäglichen Gebrauch der Gehörlosen untereinander sehr unpraktisch und zeitraubend war. Daher war es nur natürlich, wenn neben der im Unterricht verwendeten Gebärdensprache eine andere, abgekürzte, sich entwickelte und die Schrift als sicheres Mittel zur Verständigung gegenüber der hörenden Umwelt besondere Bedeutung erlangte […] Während Stork ein entschiedener Gegner Heinickes war, verschloß sich May nicht dessen Gedanken. Besonders den sozialen Ideen stimmte May durchaus bei […] May löste sich von der französischen Methode auch insofern, als er die komplizierten Zeichen durch Vereinfachungen ersetzte und diese mit […] Handalphabetszeichen ergänzte. Damit gelang ihm die Konstruktion eines ‚gemischten