gehört zu den Kernfächern der Ausbildung von Studierenden an den Fachbereichen für Soziale Arbeit, Sozialpädagogik bzw. Sozialwesen an Fachhochschulen und Universitäten in Deutschland. Sehr oft ist dort bereits im Grundstudium eine entsprechende Lehrveranstaltung zu besuchen und mit einer Klausur abzuschließen. Mit Blick darauf erscheinen die gängigen Lehrbücher überwiegend als zu umfangreich und komplex.
Diese Lücke will der vorliegende „Grundkurs Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit“ schließen, der aus Lehrveranstaltungen an der Fachhochschule Wiesbaden hervorgegangen ist. Das Buch vermittelt in 14 Kapiteln das für die Soziale Arbeit relevante Basiswissen insbesondere über das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe) in einer systematischen und deshalb einprägsamen und zugleich auf die Zielgruppe zugeschnittenen, verständlich formulierten Art und Weise. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen Übersichten, die – zusammen mit dem gleichzeitig zu lesenden Gesetzestext – das „Wichtigste“ für die Klausur vermitteln, ergänzt um Erläuterungen und Fallbeispiele.
Wiesbaden, im Oktober 2006
Reinhard Joachim Wabnitz
1 Grundsätze und Strukturprinzipien des Kinder- und Jugendhilferechts I
1.1 Kinder- und Jugendhilfe(recht) und SGB VIII (§ 1)
1.1.1 Kinder- und Jugendhilfe
Was ist „Kinder- und Jugendhilfe“? Darunter versteht man die Gesamtheit der öffentlichen Sozialisationshilfen für junge Menschen sowie der Unterstützungsleistungen für deren Familien, Erziehungs- und Personensorgeberechtigte außerhalb von Familie, Schule, Hochschule, Berufsausbildung und Arbeitswelt.
Der Begriff „Kinder- und Jugendhilfe“ ist inhaltlich identisch mit dem früher und auch heute noch gebräuchlichen Begriff „Jugendhilfe“. Beide beziehen sich auf junge Menschen, also Kinder, Jugendliche und junge Volljährige im Alter von unter 27 Jahren, sowie ihre Personensorge- und sonstigen Erziehungsberechtigten. Beiden Begriffen liegt ein umfassendes Verständnis von Kinder- und Jugendhilfe zugrunde, das sowohl die traditionelle Jugendpflege (heute: Jugendarbeit einschließlich der außerschulischen Jugendbildung) als auch die „klassische“ Jugendfürsorge (heute im Wesentlichen: Hilfen zur Erziehung) und weitere Aufgaben umfasst („Einheit der Kinder- und Jugendhilfe“).
Die Kinder- und Jugendhilfe ist seit Jahrzehnten durch außerordentlich dynamische Ausweitungen von Aufgaben und finanziellen Aufwendungen gekennzeichnet (dazu: Fuchs-Rechlin/Schilling 2018; Schilling 2018). Im Jahre 2016 wurden in der Kinder- und Jugendhilfe deutschlandweit über 45,1 Mrd. € verausgabt (Statistisches Bundesamt 2017a). Seit 1992 haben sich die indexierten Nettoausgaben der kommunalen Haushalte für die Kinder- und Jugendhilfe mehr als verdreifacht und sind weitaus stärker gestiegen als die Ausgaben in allen (!) anderen kommunalen Aufgabenbereichen (Deutscher Bundestag, 14. Kinder- und Jugendbericht 2013, 268 f.). Zumindest in quantitativer Hinsicht war die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in den letzten Jahren eine Erfolgsgeschichte!
Die Sachverständigenkommission für den 14. Kinder- und Jugendbericht (a. a. O., 47) hat zu Recht betont: die Kinder- und Jugendhilfe „ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“. Denn sie bietet heute Infrastrukturleistungen für komplette Altersjahrgänge an, bis hin zur „Vollversorgung“ (bei fast 100-prozentiger Inanspruchnahme) im Kindergartenbereich. Die Kinder- und Jugendhilfe wird auch sonst in vielen Feldern immer selbstverständlicher in Anspruch genommen, etwa im Bereich der Krippen, der Frühen Hilfen, der Beratungsdienste oder der Schulsozialarbeit u. a. In der Kinder- und Jugendhilfe, einer der großen „Wachstumsbranchen“ in Deutschland, arbeiten heute mehr als 800.000 Menschen hauptberuflich (Statistisches Bundesamt 2017b) – übrigens mehr als in der deutschen Automobilindustrie – und darüber hinaus noch unzählige ehrenamtlich. Die Kinder- und Jugendhilfe hat eine Präsenz und auch politische Bedeutung erlangt, die sie nie zuvor hatte.
1.1.2 Kinder- und Jugendhilferecht
Das Kinder- und Jugendhilferecht umfasst die Gesamtheit der Rechtsvorschriften des Bundes- und Landesrechts für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Das wichtigste Gesetz des Kinder- und Jugendhilferechts ist das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe). Darüber hinaus gibt es weitere Bundesgesetze wie das Adoptionsvermittlungsgesetz (AdVermiG), das SGB I und X, das Jugendschutzgesetz (JuSchG), das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG), das Gesetz zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten (JFDG), das Jugendgerichtsgesetz (JGG), das Unterhaltsvorschussgesetz (UhVorschG) und das 4. Buch des BGB (Familienrecht). Daneben bestehen internationale Abkommen wie das Haager Minderjährigenschutzabkommen (Haager MSA) und die UN-Kinderrechtskonvention. Das Kinder- und Jugendhilferecht des Bundes wird ergänzt und konkretisiert durch Landesrecht der 16 Bundesländer, insbesondere durch deren Landesausführungsgesetze zum SGB VIII: zur Organisation (siehe Kap. 12), zur Jugendarbeit (5.5), zu den Kindertagesstätten und zur Kindertagespflege (Kap. 6.4) sowie zum Kinderschutz. Auf kommunaler Ebene existiert Satzungsrecht, z. B. über das Verfahren des Jugendhilfeausschusses.
1.1.3 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG)
Das KJHG ist die weithin übliche Kurzbezeichnung des Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts vom 26.6.1990 (BGBl I 1163). Dieses war ein „Artikelgesetz“, gleichsam ein „Mantelgesetz“ mit zahlreichen Teilen. Der wichtigste Teil war und ist dessen Artikel 1, mit dem das seinerzeit neu formulierte Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe) als Teil des Sozialgesetzbuches in dieses eingefügt worden war. Daneben gab es weitere Artikel, die heute nicht mehr von Bedeutung sind. Das „Verhältnis“ von KJHG und SGB VIII muss man sich also wie in Übersicht 1 dargestellt vorstellen.
Übersicht 1
KJHG = Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts
Art. 1: SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe)
Art. 2 bis 9: Änderungen des SGB I, X, BGB, JGG u. a.
Art. 10 bis 19: Übergangsvorschriften (bis 31.12.1994)
Art. 20 bis 24: Schlussvorschriften
Die korrekte Zitierweise einschlägiger §§ lautet deshalb nicht: § X KJHG, sondern
1. entweder: § X SGB VIII (wie mittlerweile üblich)
2. oder: Art. 1 § X KJHG
1.1.4 Das Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII)
Im Folgenden wird im Wesentlichen nur noch vom SGB VIII die Rede sein, zurzeit in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.09.2012 (BGBl I. S. 2022), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30.10.2017 (BGBl I. S. 3618). Das SGB VIII ist ein modernes, verständlich formuliertes und einleuchtend untergliedertes Gesetz. Seine Struktur und Systematik können nicht selten für Auslegungsfragen nutzbar gemacht werden. Das SGB VIII enthält elf Kapitel mit insgesamt ca. 150 Paragrafen (siehe Übersicht 2).
Übersicht 2
Die Gliederung des SGB VIII in elf Kapitel
1. Allgemeine Vorschriften (§§ 1 bis 10); sie gelten für alle folgenden Kapitel und sind grundlegend für das Verständnis des gesamten SGB VIII!
2. Leistungen der (Kinder- und) Jugendhilfe (§§ 11 bis 41); diese Paragrafen sind für die Soziale Arbeit am wichtigsten!
3. andere Aufgaben der (Kinder- und) Jugendhilfe, (§§ 42 bis 60); -hoheitliche und für die Soziale Arbeit wichtige Schutzaufgaben betreffend Kinder und Jugendliche!
4. Schutz von Sozialdaten (§§ 61 bis 68)
5. Träger der (Kinder- und) Jugendhilfe, Zusammenarbeit, Gesamtverantwortung (§§ 69 bis 81); wichtig für das Gesamtsystem der freien und öffentlichen (Kinder- und) Jugendhilfe!
6. zentrale Aufgaben §§ 82 bis 84 (auf Bundes- und Landesebene)
7. Zuständigkeit, Kostenerstattung (§§ 85 bis 89h)
8. Kostenbeteiligung (§§ 90 bis 97c)
9. Kinder- und