Reinhard J. Wabnitz

Grundkurs Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit


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Texte, Materialien

      Fall 1: Prüfschema und Arbeitsanleitung zur Lösung kinder- und jugendhilferechtlicher Fälle

      Die Eheleute A und B haben vier Kinder und erbitten Auskunft darüber, ob und ggf. welche Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII ihre Kinder bzw. sie als Eltern vom JA oder von Trägern der freien Jugendhilfe erhalten können.

      2 Grundsätze und Strukturprinzipien des Kinder- und Jugendhilferechts II

      2.1 Anwendungsbereich des SGB VIII (§§ 7, 6, 10)

      2.1.1 Begriffsbestimmungen (§ 7)

      bezeichnet (vgl. § 7 Abs. 2).

      Gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 ist junger Volljähriger, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist, und gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 4 ist (als Sammelbegriff für das gesamte SGB VIII) junger Mensch, wer noch nicht 27 Jahre alt ist. Diese Begriffe gibt es so nur im SGB VIII. Im Jugendstrafrecht spricht man von „Heranwachsenden“ im Alter von 18 bis unter 21 Jahren.

      Der Begriff „Personensorgeberechtigter“ in § 7 Abs. 1 Nr. 5 entspricht dem des BGB in den §§ 1626 ff. BGB: Inhaber des Personensorgerechts sind ggf. die Eltern des Kindes bzw. ein Elternteil oder ein Vormund (§§ 1773 ff. BGB) bzw. (teilweise) ein Pfleger (§§ 1909 ff. BGB). „Erziehungsberechtigter“ gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 6 sind Personensorgeberechtigte oder andere erwachsene Personen, die Erziehungsrechte aufgrund vertraglicher Vereinbarungen mit den Personensorgeberechtigten wahrnehmen, z. B. in Kindertageseinrichtungen oder in Heimen der Kinder- und Jugendhilfe.

      2.1.2 Geltungsbereich (§ 6)

      Vertiefung: Die komplizierten Regelungen des § 6 betreffen Leistungen (§ 2 Abs. 2, § 3 Abs. 2), andere Aufgaben (§ 2 Abs. 3, § 3 Abs. 3) sowie die Ausübung des Umgangsrechts (§§ 1684 ff. BGB), und zwar differenziert mit Blick auf Deutsche und Ausländer (siehe Übersicht 9).

      Übersicht 9

      Geltungsbereich des SGB VIII (§ 6)

      I Bei Leistungen:

      1. für Deutsche

      1.1 gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 bei tatsächlichem Aufenthalt in Deutschland oder

      1.2 gemäß § 6 Abs. 3 (nachrangig) im Ausland, soweit sie nicht dort Hilfe erhalten;

      2. für Ausländer

      2.1 gemäß § 6 Abs. 2, wenn sie

      2.1.1 in Deutschland ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben und

      2.1.2 sich in Deutschland aufhalten

      ■ rechtmäßig (insbesondere: aufgrund einer Aufenthaltsoder Niederlassungserlaubnis nach §§ 7 und 9 Aufenthaltsgesetz)

      ■ oder aufgrund einer Duldung nach § 60a Aufenthaltsgesetz,

      2.2 falls nicht bereits nach 2.1: ggf. gemäß § 6 Abs. 4

      2.2.1 aufgrund überstaatlichen Rechts (z. B. Haager MSA, Europäisches Fürsorgeabkommen) oder

      2.2.2 aufgrund zwischenstaatlichen Rechts.

      II Bei anderen Aufgaben gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 und bei tatsächlichem Aufenthalt in Deutschland:

      1. für alle Deutschen

      2. und für alle Ausländer.

      III Beim Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts bei gewöhnlichem Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen in Deutschland haben gemäß § 6 Abs. 1 Satz 3:

      1. alle Deutschen

      2. und alle Ausländer.

      Das Verhältnis von Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII zu anderen Leistungsbereichen und Verpflichtungen regelt § 10 differenziert, aber präzise im Sinne des in Übersicht 10 gezeigten „Dreischrittes“: 1. vor 2. (SGB VIII) und 2. (SGB VIII) vor 3.

      Übersicht 10

      Verhältnis des SGB VIII zu anderen Leistungsbereichen und Verpflichtungen (§ 10)

      1. Vorrang vor dem SGB VIII haben:

      ■ Verpflichtungen anderer, insbesondere anderer Sozialleistungsträger (z. B. nach SGB III/Arbeitsförderung oder SGB V/Gesetzliche Krankenversicherung), § 10 Abs. 1,

      ■ Schule, § 10 Abs. 1,

      ■ private Unterhaltsverpflichtete (nach dem BGB), § 10 Abs. 2,

      ■ bestimmte Leistungen nach dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende sowie für Bildung und Teilhabe), § 10 Abs. 3 Satz 2,

      ■ Leistungen der Eingliederungshilfe für körperlich und/oder geistig behinderte junge Menschen nach § 10 Abs. 4 Satz 2 (ggf. Landesrecht, § 10 Abs. 4 Satz 3).

      2. SGB VIII/Kinder- und Jugendhilfe.

      3. Nachrangig gegenüber dem SGB VIII sind

      ■ Leistungen nach dem SGB II/Grundsicherung für Arbeitssuchende, § 10 Abs. 3 Satz 1 (außer: § 10 Abs. 3 Satz 2; vgl. 1.),

      ■ Leistungen nach dem SGB IX/Rehabilitation und Teilnahme und dem SGB XII/Sozialhilfe, § 10 Abs. 4 Satz 1 (außer: § 10 Abs. 4 Sätze 2 und 3; vgl. 1.).

      Leistungen anderer Sozialleistungsträger sind neben den in Übersicht 10 genannten auch solche der gesetzlichen Unfall- und Rentenversicherung, der Ausbildungsförderung, Erziehungsgeld, Wohngeld, Versorgungsleistungen bei Gesundheitsschäden u. a. Der Vorrang der Schule gilt auch mit Blick auf Fördermaßnahmen zur Beseitigung von Lernschwierigkeiten wie Legasthenie, Dyskalkulie. Ein ausschließlich schulischer Hilfebedarf begründet keinen sozialpädagogischen Bedarf an Hilfe zur Erziehung, auch wenn die Schule kein ausreichendes Angebot zur Aufarbeitung von Schwächen eines Schülers vorhält (OVG Nordrhein-Westfalen, JAmt 2009, 201). Kompliziert sind insbesondere im Bereich der Jugendsozialarbeit das Verhältnis von SGB II und SGB VIII sowie bei behinderten jungen Menschen das Verhältnis von Kinder- und Jugendhilfe (Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte nach § 35a) und Sozialhilfe (Eingliederungshilfe für körperlich und geistig Behinderte nach §§ 53 ff. SGB XII) bzw. ab dem 01.01.2020 nach Teil 2 SGB IX/Rehabilitation und Teilhabe. (Vorrangige) private Unterhaltsverpflichtungen sind insbesondere solche nach §§ 1601 ff. BGB (Unterhalt zwischen Verwandten in gerader Linie, insbesondere von Eltern mit Blick auf ihre Kinder).

      2.2.1 Wunsch- und Wahlrecht (§ 5)