Reinhard J. Wabnitz

Grundkurs Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit


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mit Blick auf das frühere, bis 1990 geltende Gesetz für Jugendwohlfahrt (JWG) hat das Bundesverwaltungsgericht in den 1970er Jahren festgestellt, dass dieses „seinem Gegenstand nach“ ein „Erziehungsgesetz“ sei (BVerwGE 52, 214 f.). Dies gilt auch für das SGB VIII, auch wenn dabei der Fokus „Stärkung und Unterstützung der Familien“ verstärkt in den Mittelpunkt der rechtlichen Regelungen gerückt ist. Außerdem ist das SGB VIII ein Leistungs-, Struktur- und Fördergesetz.

      Das „Leitmotiv“ für das SGB VIII beinhaltet dessen § 1 Abs. 1, ergänzt um Absatz 3. Gemäß § 1 Abs. 1 SGB VIII hat jeder junge Mensch „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“. Diese zweifache – individuelle wie soziale – Zielsetzung der Kinder-und Jugendhilfe zieht sich gleichsam wie ein „roter Faden“ durch das gesamte SGB VIII. Eine Konkretisierung erfolgt durch § 1 Abs. 3 Nr. 1 bis 4.

      Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, die ranghöchste innerstaatliche Rechtsquelle, enthält mehrere Verfassungsbestimmungen, die sowohl für Ehe und Familie als auch für die Kinder- und Jugendhilfe wichtig sind (siehe dazu Übersicht 3).

      Übersicht 3

      Kinder- und Jugendhilferecht und Grundgesetz (GG)

      1. Art. 6 Abs. 1 Ehe und Familie

      ■ besonderer Schutz der staatlichen Ordnung

      2. Art. 6 Abs. 2 Pflege und Erziehung der Kinder

      ■ als Recht und Pflicht der Eltern (Satz 1),

      ■ über das die staatliche Gemeinschaft wacht „Staatliches Wächteramt“ (Satz 2)

      3. Art. 6 Abs. 3

      ■ Fremdplatzierung von Kindern nur bei Versagen der Eltern oder bei drohender Verwahrlosung der Kinder

      4. Art. 6 Abs. 5 Kinder

      ■ Gleichberechtigung von nichtehelichen und ehelichen Kindern

      Von fundamentaler Bedeutung für das Kinder- und Jugendhilferecht wie für das Familienrecht ist jedoch primär Art. 6 Abs. 2 GG, der zwei Sätze enthält. Nach Satz 1 sind Pflege und Erziehung der Kinder „zuvörderst“ (also: in erster Linie) Recht und Pflicht der Eltern. In dieses verfassungsrechtlich geschützte Elternrecht darf der Staat mithin grundsätzlich nicht eingreifen – es sei denn, das Kindeswohl wäre gefährdet.

      Deshalb wird Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG durch den weiteren Satz 2 ergänzt, wonach der Staat über „deren Betätigung“ (also: die Wahrnehmung von Elternrechten und -pflichten) wacht. Aufgrund dieses „staatlichen Wächteramtes“ muss der Staat z. B. bei Kindesmisshandlung oder -vernachlässigung eingreifen. Die zuständigen Stellen sind mithin befugt, ggf. zum Schutz von Kindern und Jugendlichen dabei eventuell auch Elternrechte einzuschränken.

      Auf diesen fundamentalen Verfassungsnormen von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG, die wortgleich (!) in § 1 Abs. 2 SGB VIII wiederholt werden, bauen sowohl das Familienrecht als auch das Kinder- und Jugendhilferecht (nach dem SGB VIII) auf (siehe Übersicht 4).

      Übersicht 4

      Grundgesetz, Familienrecht, Kinder- und Jugendhilferecht

      Die beiden zentralen Verfassungsnormen sind

      ■ Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG („Elternrechte/-pflichten“)

      wortgleich mit § 1 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII sowie

      ■ Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG („Staatliches Wächteramt“)

      wortgleich mit § 1 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII.

      Sie werden konkretisiert: insbesondere durch Buch 4. BGB (Familienrecht) (zu Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) bzw. das SGB VIII sowie §§ 1666 ff. BGB (zu Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG)

      „Dazwischen“ gibt es umfassende präventive sowie Familien unterstützende, ergänzende und ggf. ersetzende Leistungsangebote der Kinder- und Jugendhilfe (§§ 11 bis 41 SGB VIII).

      Zugleich bestehen Spannungsfelder zwischen Elternrechten, Kinderrechten und staatlichen Eingriffsbefugnissen – und in der Kinder-und Jugendhilfe zwischen „Leistung und Eingriff“ bzw. „Hilfe und Kontrolle“(„doppeltes Mandat“ des JA).

      Unter dem „Dach“ von Art. 6 Abs. 2 GG entfalten sich Familienrecht und Kinder- und Jugendhilferecht in einer mannigfach aufeinander bezogenen Weise. In Buch 4. BGB Familienrecht wird an zahlreichen Stellen auf das SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) verwiesen, und umgekehrt wird an etlichen Stellen im SGB VIII das Regelwerk des Buches 4. BGB Familienrecht vorausgesetzt. Das 4. Buch Familienrecht (BGB) und das SGB VIII stellen sich also in weiten Teilen gleichsam als „siamesische Zwillinge“ dar, die getrennt voneinander nicht vollständig begriffen werden können.

      Aus der Sicht des verfassungsrechtlich geschützten Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG kann man des Weiteren Folgendes sagen: Das Kinder- und Jugendhilferecht rankt sich gleichsam „zwiebelförmig“ um dieses herum. Das SGB VIII beinhaltet grundsätzlich freiwillige Leistungen, die in Anspruch genommen werden können, aber nicht in Anspruch genommen werden müssen.

      Entsprechend den in Übersicht 5 gekennzeichneten vier Alternativen gestaltet sich das Kinder- und Jugendhilferecht – aus Sicht der grundgesetzlich verbürgten Elternrechte – jedoch schrittweise „intensiver“, bis hin schließlich zu dem Punkt, wo bei Kindeswohlgefährdung sogar Eingriffe in diese (durch das Familiengericht) erforderlich sind.

      Übersicht 5

      Elternrecht und Kinder- und Jugendhilfe aus der Perspektive des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sowie der §§ 1626 ff. BGB:

      1. Alternative: Die Eltern gewährleisten „normale“ Entwicklungsbedingungen für ihre Kinder (entsprechend §§ 1626 ff. BGB): Es sind keine Maßnahmen nach dem SGB VIII erforderlich.

      2. Alternative (faktisch der häufigste Fall!): Eltern suchen ergänzende/unterstützende Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, z. B. in Form von Kindertagesbetreuung oder -pflege (§§ 22 ff.), Familienbildung, -freizeiten und -erholung (§ 16), oder von speziellen Angeboten der Förderung der Erziehung in der Familie (§§ 19 bis 21).

      3. Alternative: Die Eltern suchen Unterstützung in schwierigen Situationen, z. B. durch Eheberatung oder Beratung in Fragen von Trennung, Scheidung oder bei Sorge-, Umgangs- oder Unterhaltsfragen (§§ 17, 18).

      4. Alternative: Es besteht im Falle von (drohenden) Erziehungsdefiziten Bedarf hinsichtlich spezieller sozialpädagogischer Hilfe und Unterstützung und damit Anspruch auf Hilfe zur Erziehung (§§ 27 ff.):

      ■ Beantragen die Eltern eine solche Hilfe nicht, geschieht nichts! Der Grundsatz lautet: keine Zwangshilfen in die Familie!

      ■ Aber es gibt eine Grenze bei Kindeswohlgefährdung – dann Maßnahmen ggf. nach §§ 8a, 42 sowie § 1666 BGB.

      1.3 Freie und öffentliche (Kinder- und) Jugendhilfe (§§ 3, 4)

      Freie (Kinder- und) Jugendhilfe nach den §§ 3 und 4 umfasst alle nichtöffentlichen Träger und Organisationen, die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne der §§ 1 und 2 wahrnehmen (siehe Übersicht 6).

      Übersicht 6

      Freie Träger der (Kinder- und) Jugendhilfe sind z. B.

      ■ Verbände, Gruppen und Initiativen der Jugend

      ■ Träger der außerschulischen Jugendbildung

      ■