Herkunftsfamilie nach §§ 27, 33 ff. – für erforderlich, so hat es das Familiengericht gemäß § 8a Abs. 2 Satz 1 anzurufen. Besteht darüber hinaus eine dringende Gefahr für das Kindeswohl und kann eine familiengerichtliche Entscheidung nicht abgewartet werden, so ist das JA gemäß § 8a Abs. 2 Satz 2 verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen. Weitere Einzelheiten dazu sind in § 42 geregelt. Gegebenenfalls hat das JA zur Abwendung der Gefahr nach § 8a Abs. 3 auch mit anderen Leistungsträgern, Einrichtungen der Gesundheitshilfe oder der Polizei zusammenzuarbeiten bzw. diese einzuschalten. Gemäß § 8a Abs. 5 ist zwecks Wahrnehmung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung ein Datenaustausch zwischen den örtlichen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe vorgeschrieben, und § 8b beinhaltet explizite Ansprüche auf fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen.
Vertiefung: Gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung im Sinne von § 8a Abs. 1 Satz 1 können z. B. sein (vgl. Münder et al. 2013, § 8a Rz. 12 ff.; Wiesner 2015, § 8a Rdnr. 13a ff.):
■ massive Verletzung des Kindes
■ Unterernährung
■ Suchterkrankung
■ starke Verängstigung, Apathie
■ massive Schulverweigerung
■ ernst zu nehmende Äußerungen über Misshandlungen/Vernachlässigungen
■ unzureichende Hygiene
■ körperliche Gewalt
■ fehlende oder verweigerte Beziehungs- und Bindungsangebote
■ übermäßige Einschränkung der Autonomie
■ problematische familiäre Situation
■ extrem beengter Wohnraum, Vermüllung, Obdachlosigkeit
■ problematische persönliche Situation der Erziehungspersonen
2.3.2 Garantenstellung
Vertiefung: Fälle des Verdachts bzw. des Auftretens von Kindesmissbrauch oder -vernachlässigung stellen zugleich eine „Gefahr geneigte“ Tätigkeit insbesondere für die fallzuständigen Sozialarbeiterinnen dar, die sich in „Extremfällen“ sogar (durch Unterlassen nach § 13 StGB) strafbar machen können, wenn sie im Falle einer Garantenstellung nicht oder nicht rechtzeitig gehandelt haben (Näheres dazu bei Wabnitz 2018a; Kap. 14.2).
2.3.3 Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) und Landeskinderschutzgesetze
Vertiefung: Gemäß § 2 KKG (als Artikel 1 BKiSchG) sollen Eltern sowie werdende Mütter und Väter über Unterstützungsangebote in Fragen der Kindesentwicklung, in der Regel in Form eines persönlichen Gespräches, informiert werden. Des Weiteren sind nach § 3 KKG im Bereich der Jugendämter verbindliche Netzwerkstrukturen für die Zusammenarbeit der zuständigen Leistungserbringer und Institutionen im Kinderschutz aufzubauen und weiterzuentwickeln. Schließlich haben alle in § 4 KKG bezeichneten so genannten „Geheimnisträger“ (u. a. Ärzte, psychologisches und sozialpädagogisches Fachpersonal, Lehrer) gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe einen Anspruch auf Beratung durch eine „insoweit erfahrene Fachkraft“. Zusätzliche Regelungen zum Kinderschutz sind in den Landeskinderschutzgesetzen enthalten (dazu Wabnitz 2010a).
2.4 Historische Entwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts
Vertiefung: Hasenclever 1978; Wabnitz 2015
Übersicht 14
Vom Reichsjugendwohlfahrtsgesetz zum SGB VIII. Zur Geschichte der (Kinder- und) Jugendhilfe-gesetzgebung
Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG)
■ Verkündung am 9.7.1922
■ erste einheitliche deutsche Regelung
■ Zusammenführung von Jugendpflege und -fürsorge
■ Konzentration der örtlichen Jugendhilfe im JA
■ Regelung des Verhältnisses von öffentlicher und freier Jugendhilfe
■ Kritik: kein Leistungs-, sondern Organisationsgesetz
■ Notverordnung vom Februar 1924: Suspendierung zahlreicher Neuregelungen
Nationalsozialistische Diktatur
■ Bildung eigener Organisationen (z. B. Hitlerjugend)
■ „Gleichschaltung“ aller öffentlichen Stellen
Novelle des RJWG von 1953
Gesetz für Jugendwohlfahrt (JWG) 1961
Mehrere (gescheiterte) Reformversuche seit den 1970er Jahren
Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) und SGB VIII
■ Inkrafttreten: neue Bundesländer am 3.10.1990, alte Bundesländer am 1.1.1991
■ Perspektivenwechsel („Prävention vor Intervention“)
■ teilweise neue Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe
■ Einbeziehung von seelisch behinderten sowie ausländischen jungen Menschen und jungen Volljährigen in das SGB VIII
■ Konzentration der Aufgaben im Wesentlichen bei Jugendämtern
■ Neuregelungen im Verwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz
Weitere Reformansätze und zahlreiche Änderungsgesetze seit 1992, u. a.:
■ 1992 Kindergartenrechtsanspruch (Übergangsregelungen bis 1998)
■ 1999 Neuregelung der Entgeltfinanzierung (§§ 78a ff. SGB VIII)
■ 2005 Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG)
■ 2005 Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK)
■ 2008 Kinderförderungsgesetz (KiföG)
■ 2012 Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG)
■ 2013 Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz
■ 2015 Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Betreuung und Versorgung ausländischer Kinder und Jugendlicher
Literatur
Bringewat, P. (2006): Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung (§ 8aSGB VIII) und strafrechtliche Garantenhaftung in der Kinder- und Jugendhilfe
Deutscher Städtetag et al. (2009): Empfehlungen zur Festlegung fachlicher Verfahrensstandards in den Jugendämtern bei Gefährdung des Kindeswohls. NDV 263
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (2006): Empfehlungen zur Umsetzung des § 8a SGB VIII. NDV 494
Hasenclever, C. (1978): Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung seit 1900
Hoppensack, H.-C. (2007): Kevins Tod – ein Beispiel für missratene Kindeswohlsicherung. UJ. 290
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (Hrsg.) (2011a): Der allgemeine Soziale Dienst. 2. Aufl.
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (Hrsg.) (2012): Vernachlässigte Kinder besser schützen. 2. Aufl.
Jordan, E. (Hrsg.) (2006): Kindeswohlgefährdung
Kindler, H. et al. (2006): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD)
Kunkel, P.-C. (2006): Schnittstellen zwischen Jugendhilfe (SGB VIII), Grundsicherung (SGB II) und Arbeitsförderung (SGB III)
Meysen, T./Eschelbach, D. (2012): Das neue Bundeskinderschutzgesetz
Münder, J. (2007): Untersuchungen zu den Vereinbarungen zwischen den Jugendämtern und den Trägern von Einrichtungen und Diensten nach § 8a Abs. 2 SGB VIII
Pfadenhauer, B. (2011): Das Wunsch- und Wahlrecht der Kinder- und Jugendhilfe