Jörg Reinhardt

Grundkurs Arbeitsrecht für die Soziale Arbeit


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      Während das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) eine wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden bei einer Sechs-Tage-Woche vorsieht (§ 3 ArbZG), bestimmen §§ 8 und 15 des Jugendarbeitsschutzgesetzes (JArbSchG) für Jugendliche eine wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden bei einer Fünf-Tage-Woche. Beide Gesetze sind in Kraft und gleichrangig, das JArbSchG ist jedoch für jugendliche Arbeitnehmer (zum Begriff siehe § 2 Abs. 2 JArbSchG) die speziellere Norm und hat für diese Personengruppe Vorrang, da der Gesetzgeber Jugendlichen einen weiter gehenden Schutz gewähren will als „normalen“ Arbeitnehmern.

      •Vom Rangprinzip und dem Ordnungsprinzip gibt es die Ausnahme des sog. „Günstigkeitsprinzips“. Dieses Prinzip, das etwa in § 4 Abs. 3 TVG oder § 13 Abs. 1 S. 3 BUrlG zum Ausdruck kommt, besagt, dass entgegen den vorstehenden Ausführungen eine rangniedere die ranghöhere Regelung verdrängen kann, wenn diese für den Arbeitnehmer günstiger ist.

      Beispiel

      Verpflichtet sich ein Arbeitgeber dazu, einem Arbeitnehmer ein deutlich über dem Tariflohn liegendes Arbeitsentgelt zu bezahlen, so ist diese Regelung aus dem (an sich „rangniederen“) Arbeitsvertrag für den Arbeitnehmer günstiger als die Bestimmung des einschlägigen ranghöheren Tarifvertrags. Gleichwohl ist die nachrangige vertragliche Regelung aufgrund des Günstigkeitsprinzips die entscheidende Bestimmung. Der Arbeitnehmer kann also den darin vereinbarten höheren Lohn verlangen.

      Während im Verhältnis von Betriebsvereinbarung zu Tarifvertrag gemäß § 77 Abs. 3 BetrVG das Rangprinzip gilt, der Tarifvertrag also kraft Gesetzes Vorrang hat, gilt im Verhältnis von Betriebsvereinbarung zum Arbeitsvertrag wieder das Günstigkeitsprinzip: Für den Arbeitnehmer günstigere arbeitsvertragliche Regelungen haben also Vorrang vor den Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung. § 4 Abs. 3 TVG wird entsprechend auf die Betriebsvereinbarung angewandt (Abb. 2).

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      Wie überall in der Rechtswissenschaft ist es auch im Arbeitsrecht unerlässlich, exakt mit den in den einzelnen Rechtsnormen verwendeten Begriffen umzugehen. Im Arbeitsrecht erhalten diese ihre genaue Ausprägung oftmals erst aufgrund der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und anderer Obergerichte.

      Arbeitnehmer ist nach § 611a BGB, wer im Dienste eines anderen zur Leistung einer weisungsgebundenen, fremdbestimmten Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Im Gegensatz zu einem Selbstständigen („Freiberufler“) kann ein Arbeitnehmer seine Tätigkeit im Wesentlichen nicht frei gestalten und seine Arbeitszeit sowie regelmäßig auch seinen Arbeitsort nicht frei bestimmen. Er unterliegt den fachlichen und organisatorischen Weisungen des Arbeitgebers (§ 611a Abs. 1 S. 3 BGB).

      Beispiel

      S arbeitet als Streetworkerin für einen freien Jugendhilfeträger in einer Großstadt. Vom Träger erhält sie Anweisungen, zu welchen Tagen und Uhrzeiten sie an welchen Standorten präsent sein soll. S kann nicht selbst entscheiden, wann und wo sie ihre Angebote platziert.

      Selbst wenn eine weitgehende fachliche Selbstständigkeit gegeben ist, liegt eine Arbeitnehmereigenschaft vor, wenn die betreffende Person hinsichtlich Ort und Zeit der Arbeitsleistung in den Betrieb des Arbeitgebers eingegliedert ist oder aus anderen Gründen eine persönliche Abhängigkeit vorliegt.

      Beispiel

      Sozialarbeiter S ist bei einem freien Träger als Vollzeitkraft für die berufsbezogene Sozialarbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund eingestellt. Er kann zwar selbst bestimmen, welche konkreten Angebote und Kurse er für die Zielgruppe entwickelt und durchführt; es ist aber klar geregelt, wie viele Stunden pro Woche seine Arbeitszeit beträgt und zu welchen Zeiten er in seinem Büro persönlich erreichbar sein muss. S ist Arbeitnehmer.

      Da die Abgrenzung zwischen Arbeitnehmereigenschaft und Selbstständigkeit oftmals nicht eindeutig ist, muss im Einzelfall immer eine Gesamtschau der Verhältnisse vorgenommen werden (§ 611a Abs. 1 S. 5 BGB). In diese ist bspw. auch einzubeziehen, ob die beschäftigte Person einem einzigen Vertragspartner ihre gesamte Arbeitskraft zur Verfügung stellt und ob sie berechtigt ist, die Tätigkeit weiter zu delegieren (z. B. an eigene Mitarbeiter oder Subunternehmer) oder in eigener Person die Leistung erbringen muss (§ 613 BGB). Des Weiteren wird als Indiz zu beachten sein, inwieweit Urlaubszeiten mit dem jeweiligen Betrieb abgestimmt werden müssen, ob im Fall von Krankheit eine Lohnfortzahlung bezahlt wird oder ob alle Arbeitsmaterialien (z. B. Computer, Büromaterial, Dienstwagen) bereitgestellt werden. Zudem ist zu prüfen, wem im konkreten Einzelfall das unternehmerische Risiko obliegt, wer also dafür haften muss, wenn die vereinbarte Leistung nicht wie gewünscht erbracht wurde.

      Führt die Gesamtschau der konkreten Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalls zur Annahme eines Arbeitsverhältnisses, so ist völlig unerheblich, ob der Arbeitnehmer im Vertrag als „Honorarkraft“, „Praktikant“, „Subunternehmer“ etc. bezeichnet wurde. Die Bezeichnung ist nicht maßgeblich; entscheidend sind ausschließlich die tatsächlichen Verhältnisse (§ 611a Abs. 1 S. 6 BGB). Liegt also aufgrund der Umstände ein Arbeitsverhältnis vor, dann ist auch das gesamte Arbeitsrecht auf dieses anzuwenden.

      Beispiel

      Kinderpfleger K ist als „freiberufliche Ergänzungskraft auf Honorarbasis“ für eine Kita tätig. Im Rahmen des entsprechenden Vertrages wird eine tägliche Präsenzzeit des K in der Kita von 7 bis 13 und 15 bis 17 Uhr festgeschrieben. Zudem hat K „nach Bedarf auf Anweisung der Leitung zusätzliche Zeiten“ zu leisten, „den fachlich-konzeptionellen Vorgaben der Einrichtungsleitung Folge zu leisten“ und alle „urlaubsbedingten Abwesenheiten mindestens sechs Wochen vor Urlaubsantritt“ mitzuteilen. Für seine Tätigkeit erhält er einen „Stundensatz von 11,50 EUR“. Die Umstände des Falles deuten darauf hin, dass K vorliegend fremdbestimmt und weisungsabhängig tätig ist. Trotz der Bezeichnung „freiberuflich“ wurde vorliegend ein Arbeitsvertrag geschlossen; K ist als Arbeitnehmer zu behandeln.

      Da die Abgrenzung von Arbeitnehmerschaft und freier Mitarbeit mitunter extrem schwierig ist und immer neue Formen sog. „Scheinselbstständigkeit“ zu beobachten sind, um die gesetzlichen Arbeitgeberpflichten zu umgehen, besteht in § 7a SGB IV die Möglichkeit, die Beschäftigteneigenschaft in einem sog. „Statusfeststellungsverfahren“ durch feststellenden Verwaltungsakt der Deutschen Rentenversicherung Bund (§ 7a Abs. 2 SGB IV) zumindest in Bezug auf die sozialversicherungsrechtliche Situation des Betroffenen rechtsverbindlich klären zu lassen. Hierbei werden dieselben Kriterien angewendet wie bei Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft nach dem BGB. Allerdings entfaltet die entsprechende Entscheidung lediglich eine Bindungswirkung innerhalb der Sozialversicherung (§ 77 SGG). Wird also festgestellt, dass eine in einem Betrieb eingesetzte Person „Beschäftigter“ ist, hat der Arbeitgeber für diesen auch die anfallenden Sozialversicherungsabgaben zu entrichten.

      Einzelne Gesetze des Arbeitsrechts beziehen im Einzelfall über die Arbeitnehmer im eigentlichen strengen Sinne hinaus weitere Beschäftigtengruppen, etwa die Auszubildenden, die in Heimarbeit Beschäftigten i.S.v. § 1 des Heimarbeitsgesetzes (HAG) oder sonstige Personen, die wegen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit als arbeitnehmerähnliche Personen (s. u.) anzusehen sind, in den Arbeitnehmerbegriff ein. Es ist daher immer darauf zu achten, welcher genaue Arbeitnehmerbegriff für die in einem bestimmten Gesetz geregelten Fragestellungen maßgeblich ist.

      Beispiel

      Das BUrlG definiert in § 2 auch die Auszubildenden als Arbeitnehmer und gewährt ihnen die in diesem Gesetz vorgesehenen Urlaubsansprüche. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie damit auch Arbeitnehmer i. S. d. Kündigungsschutzgesetzes