Udo Schnelle

Die ersten 100 Jahre des Christentums 30-130 n. Chr.


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könnten Hananias und Saphira (Apg 5,1–11), hellenistische Juden aus der Diaspora (vgl. die Witwen der Hellenisten in Apg 6,1), der Prophet Agabus (Apg 11,28; 21,10) sowie jüdische Priester (Apg 6,7) zur Gemeinde gestoßen sein48.

      Erste Strukturen

      In Apg 2,46 wird berichtet, dass die Gemeinde zum Brotbrechen täglich in den Häusern zusammenkam. Diese Mahlgemeinschaften werden in der Regel mehr Personen umfasst haben, als zu den jeweiligen Hausgemeinschaften gehörten. Der Größe der Häuser in Jerusalem entsprechend, nahmen wohl ca. 20–30 Personen an diesen Mahlgemeinschaften teil. Häuser in und um Jerusalem werden auch in Mk 14,3 (Simon von Betanien); Lk 24,13.29 (Emmaus-Jünger), Apg 1,13 (ein Obergeschoss); 12,12f (Maria, die Mutter des Johannes Markus), 21,16 (Mnason aus Zypern) und Gal 1,18 (Petrus kann Paulus für 2 Wochen aufnehmen) vorausgesetzt. Es muss in der Gesamtgemeinde in Jerusalem sehr bald Untergliederungen, d.h. Hauskirchen gegeben haben. Darauf weist der sprachliche Unterschied zwischen den griechisch sprechenden hellenistischen Juden und den aramäisch sprechenden palästinischen Juden hin (s.u. 5.5). Solche Treffen erforderten naturgemäß eine gewisse Organisation und auch Leitungspersonen. Dies könnte gewählten Leitern oder den jeweiligen Hausvorständen übertragen worden sein.

      Größe der Gemeinde

      Über die Größe der Gemeinde lassen sich nur Vermutungen anstellen; die Zahlenangaben in Apg 1,15 (120 Brüder) und Apg 2,41 (3000 Menschen schlossen sich an einem Tag der Gemeinde an) dürften die idealen Vorstellungen von der Anfangszeit wiedergeben. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die Gemeinde schnell wuchs und sich ihr ‚eine Menge von Männern und Frauen‘ (Apg 5,14) anschlossen. Werden mehrere Hausgemeinden in Jerusalem angenommen, dann wird man bald von ca. 100 und mehr Gemeindemitgliedern sprechen können. Nachdem sie eine bestimmte Gesamtgröße erreicht hatte, kam als Versammlungsort für die Gemeinde auch das Tempelareal mit seinen Höfen und Hallen infrage. Ebenso könnten Synagogen als Versammlungsorte für Gottesdienste gedient haben. Insgesamt scheint die Entwicklung schnell und stürmisch verlaufen zu sein.

      Geist-Erfahrungen

      Was für die paulinischen Gemeinden unzweifelhaft ist (vgl. nur 1Thess 5,19; 1Kor 12), dürfte auch für die Jerusalemer Gemeinde zutreffen: Intensive Geist-Erfahrungen prägten die religiöse Welt der ersten Christusgläubigen. Die Pfingsterzählung Apg 2,1–36 geht in ihrer vorliegenden Form auf Lukas zurück und lässt sich vollständig in die lukanische Theologie integrieren. Nach Apg 1,6–8 erscheint die Gabe des Heiligen Geistes als die entscheidende Zurüstung der Zeugen Christi in der Zeit der Abwesenheit des Herrn. In den Wirkungen des Geistes erweist sich nach Apg 2,33 Jesus als der zum Himmel Erhöhte: „Nachdem er zur Rechten Gottes erhöht worden ist und die Verheißung des Heiligen Geistes vom Vater empfangen hat, hat er dies ausgegossen, was ihr seht und hört.“ Die Gabe des Geistes des Auferstandenen und Erhöhten ist somit die Grundlage für die weltweite Mission und die Sammlung der Heilsgemeinde49. Pfingsten ist für Lukas die Erfüllung der bereits vom Täufer angekündigten Geisttaufe Jesu (vgl. Lk 3,16; Apg 1,5; 2,4). Die Jünger und alle Hörer in Jerusalem werden vom Geist zur Verkündigung befähigt (Apg 2,1–13), so dass Pfingsten eine Vorabbildung dessen wird, was sich später ereignet: Die Verkündigung des auferstandenen Jesus Christus wird unter dem Wirken des Geistes von Menschen ganz verschiedener Kulturkreise verstanden und angenommen. Trotz dieser Einbettung in die lukanische Theologie steht hinter dem Pfingstgeschehen ein historischer Kern50: neuartige und intensive Geisterfahrungen der Christusgläubigen in Jerusalem51. Sowohl im Alten Testament (vgl. Ez 36; Joel 3) als auch im antiken Judentum (vgl. äthHen 61; Jub 1,20ff; 1OS IV 18–23; 1QH 7,6f; 16,11f; 17,26) gilt die Gabe des Geistes als ein Zeichen des Anbruchs der Endzeit52. Die Geistbegabung des Messias (Jes 11,2; 28,6; 42,1; 61,1; äthHen 49,3; 62,2; PsSal 17,37; 18,7) und die Geistbegabung des ganzen Volkes (vgl. Ez 36,26f; 37,5.14; 39,29; Jes 32,15; 44,3; Sach 12,10; Hag 2,5; Joel 3,1–4; äthHen 1,23) zeugen gleichermaßen von der Gegenwart Gottes und seinem nun einsetzenden heilschaffenden Endhandeln. Auch wenn die Geist-Erfahrungen der ersten Christusgläubigen in Jerusalem sicher nicht so spektakulär und umfassend waren, wie es der Pfingstbericht darstellt, dürften sie zu einer ähnlichen Gewissheit gekommen sein, wie später z.B. die Christen in Korinth: Gott und der Auferstandene sind im Geist gegenwärtig. Die Erscheinungen des Auferstandenen und das Wirken des Geistes machten die Gemeinde gewiss, dass Gott an und durch Jesus Christus gehandelt hat und auch zukünftig handeln wird. Mit dem Geistwirken verbanden sich wahrscheinlich wunderhafte Machttaten. Zwar sind die Wundererzählung Apg 3,1–9 und die sich anschließenden Ereignisse (vgl. Apg 4,7, wo die Hohepriester Petrus und Johannes fragen: „aus welcher Kraft oder in welchem Namen habt ihr das getan?“) vollständig von Lukas gestaltet, aber wiederum sind dahinter im Kern historische Ereignisse zu vermuten. In 2Kor 11–12 setzt sich Paulus mit streng judenchristlichen ‚Überaposteln‘ (2Kor 12,11) auseinander und betont gegenüber den Korinthern, dass „die Zeichen des Apostels“ (2Kor 12,12: images) unter ihnen geschehen seien. Es gehört zum Wesen des Apostelamtes, Machttaten zu vollbringen, dadurch weist sich ein Apostel aus und daran erkennt man ihn (s.u. 5.2). Dieses pneumatische Verständnis des Apostelamtes dürfte kaum außerhalb Jerusalems bzw. unabhängig von Jerusalem entwickelt worden sein. Vielmehr spiegelt es die Anfangsereignisse in Jerusalem wider, wo unter dem Wirken des Geistes die Apostel auch Machttaten vollbrachten.

      FERDINAND HAHN, Das Apostolat im Urchristentum, KuD 20 (1974), 54–77. – JÜRGEN ROLOFF, Art. Amt IV, TRE 2, Berlin 1978, 509–533. – DERS., Art. Apostel I, TRE 3, Berlin 1979, 430–445. – MARTIN HENGEL, Jakobus der Herrenbruder – der erste „Papst“?, in: Glaube und Eschatologie (FS W.G. Kümmel), hg. v. Erich Grässer/Otto Merk, Tübingen 1985, 71–104. – WILHELM PRATSCHER, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, FRLANT 139, Göttingen 1987. – JÜRGEN ROLOFF, Die Kirche im Neuen Testament, 86–143. – MONIKA LOHMEYER, Der Apostelbegriff im Neuen Testament, Stuttgart 1995. – WOLFGANG REINBOLD, Propaganda und Mission im ältesten Christentum, 32–116. – CHRISTFRIED BÖTTRICH, Petrus, BG 2, Leipzig 2001, 132–183. – JÖRG FREY, Apostelbegriff, Apostelamt und Apostolizität, in: Theodor Schneider/Gunther Wenz (Hg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge I: Grundlagen und Grundfragen, Freiburg/Göttingen 2004, 91–188. – MARTIN HENGEL, Der unterschätzte Petrus, Tübingen 2006. − THOMAS SCHMELLER/MARTIN EBNER/RUDOLF HOPPE (Hg.), Neutestamentliche Ämtermodelle im Kontext.

      Institutionalisierungen

      Die erste Phase innerhalb der Jerusalemer Gemeinde war eine Art eschatologischer Sammlung; es schließt sich eine Phase der ersten Institutionalisierungen an: Gruppen und Personen treten in den Vordergrund und festere Strukturen bilden sich heraus53. Zwei Personenkreise bzw. Gruppen spielen in der Anfangsgeschichte der Jerusalemer Gemeinde nach lukanischer Darstellung eine bedeutende Rolle, denn der Erhöhte erscheint den Aposteln (vgl. Apg 1,2), die nach lukanischer Darstellung mit den Zwölfen identisch sind (vgl. Apg 1,15–26).

      Die ‚Zwölf‘ vor Ostern

      Der Zwölferkreis54 dürfte bereits durch Jesus von Nazareth eingesetzt worden sein55. Für seine Historizität sprechen vor allem vier Argumente: 1) Die nachösterliche Gemeinde wäre kaum zu der Aussage gekommen, Judas als ein Mitglied des engsten Jüngerkreises habe Jesus verraten (vgl. Mk 14,10.43par), wenn dies nicht geschichtliche Tatsache wäre56. 2) Der Zwölferkreis wird in der vorpaulinischen Tradition 1Kor 15,5 genannt, wonach Christus „dem Kephas erschien, dann den Zwölfen.“ Die ‚Zwölf‘ sind hier eine feste Institution, obwohl Judas nicht mehr dazugehört und Petrus eigens erwähnt wird. 3) Paulus unterscheidet in 1Kor 15,5.7 deutlich zwischen dem Zwölferkreis und den Aposteln; er weiß somit um seinen frühen Ursprung und seine besondere Funktion. 4) Der Zwölferkreis spielte nachösterlich keine erkennbare geschichtliche Rolle mehr;