Udo Schnelle

Die ersten 100 Jahre des Christentums 30-130 n. Chr.


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Das paulinische Apostolat hat göttliche Autorität und kann deshalb gegenüber den Gemeinden diese Autorität auch einfordern (vgl. 1Thess 2,7), es geht aber darin nicht auf. Nicht nur Berufung und Sendung legitimieren bei Paulus auf Dauer das Apostelamt, sondern auch die Fähigkeit des Apostels, Gemeinden zu gründen und das Evangelium als Norm der Gnade in den Gemeinden überzeugend zu repräsentieren (vgl. 2Kor 10,13–18), wodurch der Apostel selbst zur Norm wird (vgl. 1Thess 1,6; 1Kor 4,16; 11,1; Phil 3,17). Er verkörpert in seinem Auftreten und mit seiner Arbeit die Knechtsgestalt des Evangeliums (vgl. 2Kor 4,7–18), in der sich die Freiheit des Apostels realisiert (1Kor 9,19), denn der Verzicht auf den ihm eigentlich zustehenden Unterhalt (vgl. 1Kor 9,14) dient allein der ungehinderten Verbreitung des Evangeliums. Allerdings erkennt Paulus ausdrücklich an, dass einem Apostel die Unterstützung durch die Gemeinde zusteht und führt dieses Recht auf ein Wort des Herrn zurück (vgl. 1Kor 9,14 mit Lk 10,7Q)67. Sein Verzicht auf materielle Unterstützung durch die Korinther (vgl. 1Kor 9,12.15.18) sichert seine eigene theologische Unabhängigkeit (vgl. 1Kor 9,19–23) und demonstriert seine theologischen Maßstäbe: Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig (vgl. 2Kor 13,3.4). Auch Machttaten gehören für Paulus zum Apostolat Jesu Christi dazu; in Korinth geschahen „Zeichen und Wunder“ (2Kor 12,12: images)68, „in erster Linie Krankenheilungen, daneben Bekehrungen mit besonderen Begleitumständen, eindrucksvolles Auftreten gegenüber Ungläubigen, Glossolalie und andere pneumatische Zustände, Strafwunder in und außerhalb der Gemeinde.“69

      Bei Paulus gründen Berufung und Sendung exklusiv im Ostergeschehen; daneben treten als Kennzeichen des Apostolats die Gründungs-, Leitungs- und Begleitungskompetenz. Die besondere Befähigung des Paulus liegt darin, nach der Gründungspredigt und dem Gründungsaufenthalt durch Mitarbeiter und Briefe bleibend präsent zu sein70. Das Unterhaltsrecht und die Legitimation durch Wunder erkennt Paulus als Zeichen des Apostels ebenfalls an, praktiziert sie aber sehr zurückhaltend. Für ihn ist vor allem die Existenz seiner Gemeinden das Siegel seines Apostolats und sein Ruhm im Gericht (vgl. 1Thess 2,19f; 1Kor 9,2; 2Kor 3,2).

      Weder das lukanische noch das paulinische Apostelkonzept haben sich vollständig durchgesetzt71, sondern vor, neben und nach diesen Konzeptionen gab es eigenständige und/oder rivalisierende Modelle. Das Apostelamt konzentrierte sich in der Frühzeit der neuen Bewegung auf Jerusalem (vgl. 1Kor 15,7; Gal 1,17.19), lässt sich aber keineswegs darauf beschränken. Paulus selbst gibt mehrfach zu erkennen, dass es vor und neben ihm (über Kephas, die ‚Zwölf‘ und den durch eine Erscheinung [vgl. 1Kor 15,7; ferner Gal 1,19] und seine familiäre Verbindung zu Jesus besonders legitimierten Jakobus hinaus) weitere Apostel gab (vgl. 1Kor 9,5: „wie die anderen Apostel“; 1Kor 12,28: „denn erstens hat Gott eingesetzt Apostel“; 15,7: Christus erschien „danach allen Aposteln“; Gal 1,17: „die vor mir Apostel waren“; 1,19: „von den anderen Aposteln“).

      Andronikus und Junia

      Hervorzuheben ist das in Röm 16,7 erwähnte Paar Andronikus und Junia72: „Grüßt Andronikus und Junia, meine Stammverwandten und Mitgefangenen, die unter den Aposteln berühmt sind und schon vor mir in Christus waren.“ Bei Junia handelt es sich um eine Frau, wahrscheinlich um eine freigelassene Sklavin; ebenso dürfte Andronikus ein Freigelassener gewesen sein73. Da sie schon vor Paulus Apostel waren, müssen sie sich um 31/32 n.Chr. der neuen Bewegung der Christusgläubigen angeschlossen haben. Als Ort dafür kommt nur Jerusalem infrage, d.h. sie waren als geborene Juden Mitglieder der Jerusalemer Gemeinde. Sie könnten aus Rom eingewandert sein (vgl. Apg 2,10), gehörten vielleicht den Hellenisten an und arbeiteten dann eine Zeitlang mit Paulus zusammen, bevor sie schließlich wieder nach Rom zurückkehrten. Paulus spricht in 2Kor 11,23 von mehreren Gefangenschaften, so dass der Ort ihrer Zusammenarbeit und auch ihrer gemeinsamen Gefangenschaft nicht näher bestimmt werden können. Ebensowenig lässt sich die Frage sicher beantworten, wodurch Andronikus und Junia zu Aposteln wurden. Sie könnten Zeugen einer Ostererscheinung gewesen sein (vgl. 1Kor 15,6–7) oder aber als Gemeindegesandte gearbeitet haben (vgl. images in 2Kor 8,23; Phil 2,25; Apg 14,4.14). Allerdings spricht der frühe Zeitpunkt ihres Apostolats für eine Erscheinung des Auferstandenen. Festzuhalten bleibt: Bereits vor Paulus war eine Frau Apostel; ein historisches Faktum, das sich bestens in die hervorgehobene Stellung von Frauen in der Anfangsphase des frühen Christentums insgesamt und der paulinischen Mission im Speziellen einfügt (s.u. 8.3).

      Gesandte/Apostel des erhöhten Irdischen

      Ein weder in das lukanische Bild noch in die paulinische Konstruktion einfach integrierbares Apostelkonzept findet sich in der Aussendungsrede der Logienquelle (Lk 10,2–16Q)74 und im 2Korintherbrief. Die Gesandtenvorstellung der Logienquelle und die von Paulus vor allem in 2Kor 10–13 bekämpften ‚Überapostel‘ (vgl. 2Kor 11,5; 12,11) zeigen eine ganze Reihe von auffälligen Übereinstimmungen: 1) Sie sind geborene (palästinische) Juden und legen Wert auf ihre Herkunft (die Q-Gesandten erheben den Anspruch, ihren jüdischen Landsleuten Heil und Gericht anzukünden; vgl. Lk 10,5–12Q/Paulus sagt in 2Kor 11,22 über die Gegner: „Hebräer sind sie? Ich auch! Israeliten sind sie? Ich auch! Nachkommen Abrahams sind sie? Ich auch!“). 2) Sie sind Wandermissionare, die von Gemeinde zu Gemeinde ziehen (vgl. Lk 10,5–8Q/vgl. 2Kor 11,4: „wenn einer kommt und …“). 3) Sie verstehen sich offenbar als „Arbeiter“ (images) und nehmen damit eine Ehrenbezeichnung frühchristlicher Missionare auf (vgl. Lk 10,2.7Q/2Kor 11,13; vgl. Phil 3,2). 4) Sie erheben Anspruch auf materielle Unterstützung durch die Gemeinden, in denen sie wirken; es gibt für sie ein Gesandten-/Apostelrecht (vgl. Lk 10,4.7.8Q/1Kor 9,4.14; 2Kor 11,7–9.20–21; 12,13.16–18). 5) Sie vollbringen Zeichen und Wunder (vgl. Lk 10,9aQ/2Kor 12,12). 6) Sie propagieren Jesus als endzeitlichen Menschensohnrichter (vgl. Lk 10,9b.11.12.13–15Q/2Kor 11,4: „wenn einer kommt und einen anderen Jesus verkündigt, den wir nicht verkündigt haben“), wobei die Gegner im 2Kor vermutlich nicht den gekreuzigten Jesus Christus verkündigen, sondern sich vornehmlich am irdischen orientieren, was Paulus strikt ablehnt (vgl. 2Kor 5,16).

      Diesen Gemeinsamkeiten steht als auffälligster Unterschied entgegen, dass die Q-Missionare wahrscheinlich nicht den Apostel-Titel beanspruchten75. Allerdings war ihr Selbstverständnis als ‚Gesandte‘ nicht minder anspruchsvoll als der Apostelbegriff. Die Q-Missionare und die Gegner des Paulus im 2Kor (und Phil) repräsentierten offenbar – mit Unterschieden – einen eigenständigen und in die Frühzeit der Mission zurückreichenden Gesandten-/Aposteltyp: Sie orientierten sich vornehmlich am irdischen Jesus, den sie mit dem endzeitlich Kommenden identifizierten und als dessen ‚Arbeiter‘ im endzeitlichen Gerichtsgeschehen sie sich verstanden. Sie wussten sich im Geistbesitz (vgl. Lk 12,10Q/2Kor 11,4), vollbrachten Zeichen und Wunder und beanspruchten von den Gemeinden ihr Unterhaltsrecht. Dieser Apostel-Begriff ist noch zu Beginn des 2. Jh. anzutreffen, denn in Did 11, 3–6 werden strenge Regeln für umherziehende Apostel und Propheten aufgestellt (s.u. 10.5.2).

      Vier grundlegende Gemeinsamkeiten lassen sich innerhalb der verschiedenen Apostel-/Gesandtenkonzepte feststellen, wobei Apostelfunktion, Apostelautorität und Apostelrecht eine Einheit bilden: Der Apostel ist 1) ein Berufener Gottes und 2) ein Gesandter des erhöhten Irdischen und/oder des gekreuzigten Auferstandenen. 3) Der Apostel weist sich durch Zeichen und Wunder aus und hat 4) ein Unterhaltsrecht gegenüber den Gemeinden.

      Die Sonderstellung des Petrus

      Petrus ist die Gestalt des Anfangs, auf die das paulinische und lukanische Apostelkonzept in herausragender Weise zutrifft: a) Er ist der erstberufene Jünger (vgl. Mk 1,16f) und führt bereits den Jüngerkreis des Jesus von Nazareth (vgl. Mk 8,29; 9,2). b) Die Petrus zuteilgewordene Ersterscheinung des Auferstandenen legitimiert ihn auch nachösterlich als ersten Jünger, als Apostel und als ersten Leiter der Jerusalemer Gemeinde (vgl. Apg 1,13). Auf seine Sonderstellung weisen fünf