Udo Schnelle

Die ersten 100 Jahre des Christentums 30-130 n. Chr.


Скачать книгу

Rolle des Petrus bei den Anfängen der Jerusalemer Gemeinde verdeutlicht das alte Wort Lk 22,31f: „Simon, Simon, siehe, der Satan hat sich euch ausgebeten, um euch zu sieben, wie man den Weizen siebt. Ich aber habe für euch gebetet, damit dein Glaube nicht aufhört. Du aber, wenn du dich bekehrt hast, stärke deine Brüder.“ Dieses Wort bedenkt zurückblickend die Situation der Jünger angesichts der Passion Jesu und schreibt Petrus vor und nach Ostern eine Sonderstellung zu. 3) Mk 16,7 geht von einer Ersterscheinung vor Petrus in Galiläa aus („Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat“). Petrus vereinigt in seiner Person die beiden obengenannten Apostelkonzeptionen in idealer Weise: Er war ein hervorgehobener Begleiter des irdischen Jesus und zugleich der Erstzeuge der Auferstehung. 4) Auf die Führungsrolle des Petrus in Jerusalem weist auch Gal 1,18 hin. Bei seinem ersten Jerusalembesuch nach seiner Berufung zum Völkermissionar besucht Paulus nur Kephas, um sich zwei Wochen mit ihm auszutauschen, außerdem ‚sah er noch den Herrenbruder Jakobus‘ (Gal 1,19). 5) Auch das Petruswort Mt 16,17– 19 unterstreicht die Position des Petrus76. Es weist eine komplexe Struktur auf: a) Der Makarismus in V. 17 („Selig bist du, Simon Barjona, denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater in den Himmeln“) bezieht sich direkt auf das vorangehende Bekenntnis. b) An die Einführungsformel V. 18a fügen sich drei ähnlich aufgebaute Logien an, die vom Bau der Ekklesia (V. 18b: „Du bist Petrus, und auf diesem Fels werde ich meine Kirche bauen, und die Tore der Unterwelt werden sie nicht überwältigen“), von der Übergabe der Schlüssel des Himmelreiches (V. 19a: „Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben“) und von der Vollmacht des Bindens und Lösens handeln (V. 19b: „und was du auf Erden bindest, wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösest, wird im Himmel gelöst sein“). Sehr alte Tradition dürfte V. 18b aufbewahrt haben, denn ihm liegt ein Wortspiel mit images („Petrus“) und images („Fels“) zugrunde77: Es verbinden sich Namensverleihung und Namensdeutung, wobei der Name zugleich die Funktion ausdrückt. Das Wort dürfte in früher Zeit entstanden sein, jedoch nicht auf Jesus zurückgehen, denn die Wendung images („meine Gemeinde/Kirche“) setzt eine nachösterliche Situation voraus. Dennoch lässt der Text Petrus als den Garanten der Überlieferung und als Prototyp des bekennenden Jüngers und christlichen Lehrers erscheinen.

      Petrus als erster Leiter der Jerusalemer Gemeinde

      Auch die Darstellung der Apostelgeschichte unterstreicht die führende Stellung des Petrus in der Anfangszeit der Jerusalemer Gemeinde. In Apg 1–5 dominiert Petrus auf allen Ebenen78: a) Petrus beruft die Nachwahl des ‚zwölften‘ Apostels ein (Apg 1,15–26) und formuliert die Kriterien der Wahl (Apg 1,21f). b) Die Verkündigungsinitiative in der Anfangszeit der Jerusalemer Gemeinde geht von Petrus aus (vgl. Apg 2,14–36: Pfingsten; 3,12–26: Tempelpredigt; 4,8–12: Vor dem Hohen Rat). c) Petrus formuliert die entscheidenden theologischen Einsichten der Anfangszeit (vgl. Apg 2,38; 4,12; 5,29) d) Petrus beglaubigt die Macht des Auferstandenen durch Wundertaten (vgl. Apg 3,1–11; 5,9–10), er ist neben Paulus der Wundertäter der Apostelgeschichte. e) In Apg 2,37; 5,29 erscheint die Wendung ‚Petrus und die Apostel‘, wodurch die Sonderstellung des Petrus besonders hervorgehoben wird. Auch wenn die Texte in Apg 1–5 durchgängig lukanisch stilisiert sind, besteht an dem historischen Kern der Darstellung kein Zweifel: Petrus war von ca. 31–43 n.Chr. der erste Leiter der Jerusalemer Gemeinde und die überragende Gestalt der Anfangszeit.

      Jakobus ab 43/44 als Leiter der Jerusalemer Gemeinde

      Neben Petrus tritt bereits in der Anfangszeit der Jerusalemer Gemeinde der Herrenbruder Jakobus hervor (vgl. Mk 6,3par; 1Kor 15,7; Gal 1,19; 2,9.12; Apg 12,17; 15,13; 21,18; Jud 1)79. Er war kein Begleiter seines Bruders (vgl. Mk 3,21.31; Joh 7,3ff), sondern schloss sich der Gemeinde erst nach dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi an. Seine Autorität ruhte auf drei Säulen: 1) Der Herrenbruder Jakobus war neben Petrus, Maria Magdalena und Paulus eine der Personen, von denen eine anerkannte Sonderoffenbarung des Auferstandenen berichtet wird (vgl. 1Kor 15,7: „erschien er Jakobus, dann allen Aposteln“). In Verbindung mit Gal 1,19 („einen andern der Apostel habe ich nicht gesehen, mit Ausnahme des Jakobus, des Bruders des Herrn“) weist 1Kor 15,7 darauf hin, dass Jakobus als Apostel galt80. 2) Er war ein leiblicher Bruder des Herrn und setzte die Blutsverwandtschaft offenbar immer mehr zur Absicherung seiner Stellung ein. 3) Jakobus galt als gesetzestreu, d.h. er vertrat einen strengen judenchristlichen Standpunkt. Darauf weisen seine Haltung im antiochenischen Konflikt (s.u. 7.6) und die Überlieferung zu seinem Tod bei Josephus hin (s.u. 9.1). Alle drei Faktoren dürften dazu beigetragen haben, dass Jakobus an die Spitze der Jerusalemer Gemeinde rückte. Beim ersten Jerusalembesuch des Apostels Paulus im Jahr 35 n.Chr. ist offenbar Petrus der Leiter der Gemeinde. Paulus sagt in Gal 1,18 ausdrücklich, er sei nach Jerusalem hinaufgezogen um Kephas zu treffen, um dann in V. 19 anzufügen, von den anderen Aposteln habe er lediglich Jakobus gesehen. Der Apostelkonvent im Jahr 48 n.Chr. zeigt eine veränderte Situation; nun zählen Jakobus, Kephas und Johannes nach Gal 2,9 zu den Säulen in Jerusalem. Entscheidend ist die Reihenfolge, denn jetzt steht Jakobus an erster Stelle. War bis zum ersten Jerusalembesuch des Paulus Kephas die maßgebliche Autorität, so scheint in der Zeit bis zum Apostelkonvent der Herrenbruder Jakobus zur maßgeblichen Persönlichkeit geworden zu sein81. Diese einschneidende Veränderung wird auch durch den Weggang des Petrus aus Jerusalem veranlasst worden sein. Nach Apg 12,17f floh Petrus ca. 43/44 n.Chr. vor den Nachstellungen des Herodes Agrippa aus Jerusalem (s.u. 6.5) und er lässt kaum zufällig Jakobus als Ersten darüber informieren (Apg 12,17c: „sagt dies Jakobus und den Brüdern“). Zudem vertraten Jakobus und Petrus wahrscheinlich unterschiedliche theologische Positionen. Während sich Petrus immer mehr der Völkermission öffnete (vgl. Apg 10; Gal 2,12; 1Kor 9,5), war es offensichtlich das Ziel des Jakobus, die Bewegung der Christusgläubigen innerhalb des Judentums zu verankern.

      Ein reserviertes Verhältnis

      Nicht nur Jakobus, sondern auch andere Mitglieder der Familie Jesu schlossen sich nach Ostern der Bewegung der Christusgläubigen an82. Über die Angehörigen Jesu findet sich nur die Notiz Mk 6,3: „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder des Jakobus, des Joses, des Judas und des Simon? Und leben nicht auch seine Schwestern bei uns“? Zu Lebzeiten Jesu war das Verhältnis zu seiner Familie offenbar sehr gespannt, denn nach seinem ersten öffentlichen Wirken heißt es in Mk 3,21: „Als seine Angehörigen davon Kunde erhielten, machten sie sich auf den Weg, um sich seiner zu bemächtigen; denn sie waren der Meinung: Er ist von Sinnen!“ Das reservierte Verhältnis von Jesus zu seiner Familie spiegelt sich auch in Mk 3,31–35 wider, wo er auf die Nachricht, seine Mutter und Geschwister seien gekommen antwortet: „Jeder, der den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter“ (Mk 3,35). Schließlich heißt es in Joh 7,5: „Denn seine Brüder glaubten nicht an ihn.“ Nach Ostern scheint sich die Situation geändert zu haben. Nicht nur Jakobus wurde ein nachösterlicher Nachfolger seines Bruders, sondern Paulus spricht in 1Kor 9,5 von ‚den Brüdern des Herrn‘, die auf ihren Missionsreisen ihre Frauen mitnehmen. Während Josef im Dunkel der Geschichte verschwindet, wird Maria, die Mutter Jesu, wird in Lk 1–2, Mt 2 und Joh 2,4; 19,25 in das Leben Jesu eingezeichnet; nach Apg 1,14 gehören Maria und die Brüder Jesu von Anfang an zur Jerusalemer Gemeinde. Vor allem Jakobus und vielleicht auch Maria83 verbanden vermutlich ihren Verwandtenstatus mit Machtansprüchen innerhalb der ersten Gemeinden.

      Brüderpaare

      Neben Petrus und Andreas waren Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, das zweite Bruderpaar, das von Anfang an Jesus nachfolgte (vgl. Mk 1,19; 3,17; Lk 5,10) und zum engeren