Udo Schnelle

Die ersten 100 Jahre des Christentums 30-130 n. Chr.


Скачать книгу

der Zwölf mit den Aposteln. Der Zwölferkreis dürfte in die vorösterliche Zeit zurückreichen und seine Bedeutung erschließt sich vor allem aus Lk 22,28.30Q: „Ihr, die ihr mir gefolgt seid, werdet auf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.“ Der Zwölferkreis hatte offenbar die Funktion, das Zwölfstämmevolk Israel zu repräsentieren; als Vorwegnahme der eschatologischen Ganzheit Israels, gleichsam in Analogie zum Gottesreich, das in Jesus jetzt schon verborgen anfängt. Der Zwölferkreis entspricht somit dem Gegenwartsaspekt des Gottesreichs, indem er bereits den Anfang der von Gott zu schaffenden Ganzheit Israels signalisiert.

      Die ‚Zwölf‘ nach Ostern

      Eine (begrenzte) nachösterliche Bedeutung des Zwölferkreises wird durch den Erscheinungsbericht 1Kor 15,5 nahegelegt: „dass er erschienen ist dem Kephas, danach den Zwölfen“. Zwar ist der Ort des Geschehens unsicher, da aber die Erscheinungen vor Kephas und vor den Zwölfen eng zusammengehören und Kephas seine Erscheinung in Galiläa erhielt (vgl. Mk 16,7), spricht viel für Galiläa als Ort der Erscheinung Jesu Christi vor den Zwölfen57. Petrus hätte dann nach der ihm zuteilgewordenen Erscheinung den Zwölferkreis in Galiläa neu konstituiert, der seinerseits mit einer Erscheinung gewürdigt wurde. Danach verlieren sich die Spuren des Zwölferkreises, denn es ist sehr zweifelhaft, ob die gesamte Gruppe nach Jerusalem zurückgekehrt ist. Gegen eine führende Rolle des Zwölferkreises in der Jerusalemer Gemeinde spricht vor allem, dass er nur zweimal in Erscheinung tritt: 1) in der Liste Apg 1,13 und der Nachwahl des Matthias (Apg 1,15–26); und 2) bei der Einsetzung des Siebenerkreises (Apg 6,2–7). Beide Texte spiegeln den Grundgedanken der lukanischen Ekklesiologie wider, wonach die zwölf Apostel das Bindeglied zwischen der Jesus-Zeit und der Zeit der Kirche darstellen. Deshalb ‚muss‘ der Zwölferkreis vollständig sein und nur die ‚Zwölf‘ können ein neues Gremium wie den Siebener-Kreis legitimieren (s.u. 5.5). 1Kor 15,5.7 zeigen hingegen sehr deutlich, dass die Zwölf entgegen der lukanischen Darstellung nicht identisch mit den Aposteln waren, denn hier wird zwischen den ‚Zwölf‘ und den Aposteln differenziert. Faktisch spielten nur Einzelpersonen aus dem Zwölferkreis (vor allem Petrus und der Zebedaide Johannes) in der Jerusalemer Gemeinde eine Rolle. Dieses Bild wird durch Paulus bestätigt, der bei seinem ersten Jerusalembesuch ca. 35 n.Chr. nach Gal 1,18f nur mit Kephas intensiven Kontakt hatte, „von den anderen Aposteln sah ich keinen außer Jakobus, den Bruder des Herrn.“ Wahrscheinlich kam dem Zwölferkreis nach Ostern nur kurz eine Bedeutung zu; Petrus sammelte ihn in Galiläa, dann verlieren sich die Spuren. Einige Mitglieder blieben in Galiläa, andere gingen nach Jerusalem. Die Apostelgeschichte unterstreicht dies indirekt, denn auch in ihrer Darstellung haben Einzelpersonen die Führung in der Jerusalemer Gemeinde inne. Nicht die Zwölf, sondern die Apostel sind nun von entscheidender Bedeutung.

      Der Apostelbegriff

      Das Substantiv images wird in der Profangräzität vor allem im Sinn von ‚Aussendung‘ im Kontext kriegerischer Handlungen gebraucht58. Es ist weder eine Amtsbezeichnung noch kommt es in festgelegten religiösen Kontexten vor. Wird es auf Personen bezogen, dann bedeutet es ebenso wie die Passivpartizipien von images („senden“) und images („senden/schicken“) ‚von jemandem zu jemandem gesandt zu sein‘ und hat auch hier keine geprägte Bedeutung59; das Spektrum reicht von bevollmächtigten Gesandten/Verhandlungsführern‘ bis hin zu ‚Boten/Übermittlern‘. In der Septuaginta kann die Berufung und Sendung von Propheten mit images verbunden werden (vgl. Jes 6,8 u. ö.); zudem verkündet der gesandte Prophet nach Jes 61,1f den Armen ‚gute Botschaft‘ (images). Aber auch Epiktet verwendet das Verb images mehrfach in einem philosophisch-religiösen Zusammenhang: Der Kyniker ist als Botschafter des Guten und Wahren von Zeus gesandt60. Das früheste Christentum nahm den freien Begriff images auf und prägte ihn (wahrscheinlich vom Verb images her) inhaltlich neu61. Die Vorstellung eines ‚Gesandten‘ wird nun ausschließlich auf Personen bezogen und es entwickelten sich verschiedene Konzepte62, von denen zwei besonders profiliert sind: die eine Konzeption wird von Lukas überliefert, die andere repräsentiert vor allem Paulus.

      Die zwölf Apostel

      Lukas verbindet die ‚Zwölf‘ exklusiv mit ‚den Aposteln‘; für ihn sind die zwölf Apostel das Urbild der Kirche, denn sie bezeugen den Weg des Irdischen (Lk 6,13: „Und als es Tag wurde, rief er seine Jünger herbei und wählte zwölf von ihnen aus, die er auch Apostel nannte“), sie sind die Repräsentanten Israels (Lk 22,30), an sie ergeht der Sendungsauftrag (Lk 24,47), sie werden zu Augenzeugen von Himmelfahrt und Erhöhung (Lk 24,48; Apg 1,21f) und ihnen gilt die Geistsendung (Lk 24,49; Apg 1,8)63. Die zwölf Apostel sind somit die hervorgehobenen Zeugen des Christusgeschehens und die entscheidenden Traditionsträger. Sie repräsentieren für Lukas gewissermaßen das vollendete Israel, indem sie die Kontinuität zwischen der Zeit Jesu und der sich bildenden Kirche darstellen. In diesen Funktionen können sie keine Nachfolger haben, weil sie historisch und theologisch einmalige Garanten der Jesusüberlieferung und Prototypen kirchlicher Amtsträger sind. Deshalb kann nach Apg 1,21f nur in diesen Kreis aufgenommen werden, „einer von den Männern, die mit uns zusammen waren während der ganzen Zeit, da der Herr bei uns ein- und ausging, angefangen von der Taufe des Johannes bis zu dem Tage, da er von uns hinweggenommen ward.“ Matthias erfüllt die beiden Kriterien der durchgängigen vor- und nachösterlichen Augenzeugenschaft und wird deshalb (vom Geist) für dieses Amt bestimmt. Offenkundig dient die lk. Konzeption der zwölf Apostel dazu, das in Lukas 1,1–4 entworfene Bild der sicheren Unterweisung der Jesusüberlieferung zu sichern. Um dies zu erreichen, setzt Lukas den vorösterlichen Jüngerkreis faktisch mit den ‚Zwölfen‘ gleich und identifiziert die ‚Zwölf‘ mit dem nachösterlichen Kreis der Apostel. Die zwölf Apostel bringen nachösterlich die Jesusüberlieferung in die missionarische Verkündigung ein (Apg 2,22f; 4,10ff; 6,4) und machen sie zur Grundlage der Jerusalemer Gemeinde, von der es in Apg 2,42 heißt: „sie blieben bei der Lehre der Apostel“. Im Rahmen dieser Konzeption kann Paulus für Lukas kein Apostel sein, weil er als nachösterlich Berufener (Apg 9,1–19) kein Ursprungsträger der Jesusüberlieferung ist64. Paulus wird so einerseits den zwölf Aposteln heilsgeschichtlich nachgeordnet, andererseits ist er aber wie die Apostel ‚Zeuge‘ des Christusgeschehens (vgl. Apg 20,24; 22,15; 23,11; 26,16; 28,23) und übertrifft sie in seiner Wirkung bei weitem, wie vor allem der zweite Teil der Apostelgeschichte zeigt.

      Die Apostel als Beauftragte des Auferstandenen

      Während Lukas den Apostelbegriff gleichermaßen an das Wirken des irdischen und auferstandenen Jesus Christus bindet, findet sich vor allem in den paulinischen Briefen eine andere Konzeption65: Hier ist deutlich eine Erscheinung des Auferstandenen und die damit verbundene Berufung/Sendung die entscheidende, wenn auch nicht alleinige Legitimation für das Apostelamt. Besonders 1Kor 9,1; 15,8–11; Gal 1,16 legen eine solche Interpretation nahe, wobei das „zuletzt aber von allen“ in 1Kor 15,8 darauf hinweist, dass Paulus sich als letzter, wirklich legitimierter Apostel verstand. Speziell in den Gemeinden, in denen sein Apostelamt bestritten wurde (Korinth, Galatien), verweist Paulus auf seine Autorität als von Gott bzw. Christus berufener Apostel (vgl. 1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Gal 1,1)66. Eine kaum zu überbietende heilsgeschichtliche Dimension bekommt