eine konkret erlebte Management-Praxis selbst sorgfältig in den Fokus der Betrachtung zu stellen. Damit ist das SGMM eines der wenigen Management-Modelle, die Management als solches explizit zu einem Reflexionsgegenstand machen. Das SGMM versteht diese Reflexion als wesentliche Voraussetzung für eine wirksame und verantwortungsbewusste Gestaltung von organisationaler Wertschöpfung.
Demzufolge kommt dem SGMM nebst einer Beschreibungsfunktion immer auch eine Reflexions- und eine Gestaltungsfunktion zu. Es soll dazu beitragen, dass eine Management-Praxis kritisch-konstruktiv reflektiert und weiterentwickelt werden kann. Dies mit dem Ziel, das Repertoire von unternehmerischen Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten einer Organisation und der dafür verantwortlichen Management-Praxis wirkungsvoll und verantwortungsbewusst zu erweitern. [40]
3.3 Überblick über das St. Galler Management-Modell
Der zentrale Bezugspunkt von Management ist aus Sicht des SGMM die Gestaltung und Weiterentwicklung von organisationaler Wertschöpfung. Diese Wertschöpfung entsteht im Zusammenspiel (Ko-Evolution) einer Organisation mit ihrer Umwelt – einschliesslich der Vermeidung unerwünschter Nebenwirkungen wie Stress oder Umweltbelastungen. Für die Gestaltung und Weiterentwicklung organisationaler Wertschöpfung bedarf es je nach Entstehungsgeschichte, Umwelteinbettung und Wertschöpfung einer Organisation einer ganz spezifischen Management-Praxis.
Im SGMM werden zwei Perspektiven auf organisationale Wertschöpfung unterschieden, die mit der historischen Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre bzw. der Managementwissenschaft zu tun haben: eine Aufgabenperspektive und eine Praxisperspektive.
Der Aufgabenperspektive liegt die Annahme zugrunde, dass das, was eine Organisation im Kern ausmacht, d.h. das arbeitsteilige aufgabenzentrierte Zusammenwirken von Personen mit unterschiedlichen Qualifikationen, Bildungshintergründen und Berufszugehörigkeiten, selbstverständlich funktioniert. Es wird weiter davon ausgegangen, dass von aussen problemlos auf eine organisationale Wertschöpfung und ihre Weiterentwicklung eingewirkt werden kann. Der Begründer der deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre, Erich Gutenberg, hat dies in seiner wegweisenden Habilitationsschrift wie folgt formuliert (Gutenberg, 1929: 26; kursive Hervorhebung durch die Autoren):
«Die Unternehmung als Objekt betriebswirtschaftlicher Theorie kann also nicht unmittelbar die empirische Unternehmung sein. Es muss für sie die Annahme gemacht werden, dass die Organisation der Unternehmung vollkommen funktioniert. Durch diese Annahme wird die Organisation als Quelle eigener Probleme ausgeschaltet und soweit aus ihrer wissenschaftlich und praktisch bedeutsamen Stellung entfernt, dass aus ihr keine Schwierigkeiten mehr für die theoretischen Gedankengänge entstehen können.»
Dabei dominiert in vielen betriebswirtschaftlichen Modellen, Konzepten und Frameworks eine ökonomische Betrachtungsweise von Organisationen. Diese legt einen starken Fokus auf Effizienz, d.h. auf Kosten- und Nutzenüberlegungen. [41]
Aus einer Aufgabenperspektive verkörpern Organisationen klar identifizierbare Gebilde von Aufgaben- und Problemstellungen, die systematisch analytisch erfasst und rational abgearbeitet werden können. Dabei wird suggeriert, dass Konzepte und «Instrumente», wie z.B. der Marketing-Mix, die Five-Forces-Analyse oder finanzwirtschaftliche Kennzahlenanalysen, wenn sie durch die verantwortlichen Mitarbeitenden richtig verstanden und angewandt werden, zu guten Entscheidungen und damit nachhaltig zum Erfolg einer Organisation beitragen. In der Aufgabenperspektive wird somit auf die unproblematische Möglichkeit rationaler Gestaltbarkeit und Steuerbarkeit von Organisationen vertraut. Die anspruchsvollen Voraussetzungen der Wirksamkeit von Management bilden gewissermassen einen blinden Fleck dieser Perspektive.
Allerdings war sich schon Erich Gutenberg völlig bewusst, dass eine solche Sichtweise nicht ausreicht (Gutenberg, 1929: 26; kursive Hervorhebung durch die Autoren):
«Die Annahme einer solchen eingestimmten, den reibungslosen Vollzug der betriebswirtschaftlichen Grundprozesse gewährleistenden Organisation bedeutet nicht eine Negation, sondern lediglich eine Neutralisierung der Probleme der Organisation. Gerade aus der hier vorzutreibenden Einstellung heraus wird sich eine Fülle von Argumenten für die wissenschaftliche Bevorzugung organisatorischer Fragen ergeben.»
Was Erich Gutenberg in diesem Zitat fordert, wird durch die Praxisperspektive des SGMM aufgegriffen. In der Praxisperspektive steht genau das im Zentrum, was bei einer Aufgabenperspektive weitgehend als unproblematisch funktionierend ausgeblendet wird: die komplexen soziokulturellen Voraussetzungen und Praktiken arbeitsteiligen Zusammenwirkens. Konkret: Dass Kommunikation gelingt, dass immer wieder zeitgerecht tragfähige Entscheidungen zustande kommen und im Alltagsgeschehen tatsächlich Wirksamkeit entfalten, dass sich Organisationen innovativ verändern und unternehmerisch weiterentwickeln können, ist alles andere als selbstverständlich. Vielmehr bedarf dies besonderer Reflexions- und Kommunikationsanstrengungen unter Anwendung einer präzisen Perspektive auf das komplexe, flüchtige, unübersichtliche und vordergründig oft auch unverständliche Geschehen in Organisationen.
Beide Perspektiven, die Aufgaben- und die Praxisperspektive, blicken auf unterschiedliche Weise auf Umwelt, Organisation und Management. Dies hat zur Konsequenz, dass gewisse Modellkategorien in beiden [42] Perspektiven auftauchen, bisweilen in leicht unterschiedlicher Bedeutung – genauso, wie wenn man von unterschiedlichen Seiten auf den gleichen Gegenstand schaut.
• Die Aufgabenperspektive trägt einerseits dazu bei, in einem sachlich und inhaltlich fokussierten Analyse- und Gestaltungsprozess ein differenziertes Bild von Möglichkeiten zu erarbeiten, wie die bestehende organisationale Wertschöpfung unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Einflussfaktoren und Wirkmomenten erfolgreich weiterentwickelt werden kann. In diesem Analyse- und Gestaltungsprozess können die unterschiedlichsten betriebswirtschaftlichen Konzepte und Frameworks eingesetzt werden.
• Die Praxisperspektive trägt andererseits dazu bei, die vielfältigen ressourcenbezogenen und kulturellen Voraussetzungen für eine wirksame Realisation von inhaltlich überzeugenden Gestaltungsoptionen kritisch zu reflektieren. Dadurch lassen sich Wege entwickeln, wie in einem überlegten Prozess mit möglichst hoher Wirksamkeit gleichzeitig an den erforderlichen Voraussetzungen und an den Realisationsmöglichkeiten der Gestaltungsoptionen gearbeitet werden kann.
Abbildung 6: Das wechselseitige Zusammenspiel von Aufgaben- und Praxisperspektive (M.C. Escher’s «Drawing Hands» © 2020 The M.C. Escher Company-The Netherlands. All rights reserved. www.mcescher.com) [43]
Diese Gegenüberstellung von Aufgaben- und Praxisperspektive soll im Sinne von Abbildung 6 verdeutlichen, dass beide Perspektiven gleichermassen wichtig sind und sich komplementär ergänzen. Bei konkreten unternehmerischen Herausforderungen ist es unerlässlich, bei deren Bearbeitung beide Perspektiven systematisch einzusetzen. Deshalb adressiert das SGMM Umwelt, Organisation und Management aus beiden Perspektiven und setzt diese Perspektiven konstruktiv zueinander in Beziehung. Unsere langjährigen Beobachtungen in der Management-Forschung, Executive Education und in der Management-Praxis selbst zeigen unmissverständlich, wie unerlässlich es ist, dass eine wirksame und verantwortungsbewusste Management-Praxis immer wieder zwischen diesen beiden Perspektiven oszilliert und beide produktiv aufeinander bezieht.
3.4 Zur Entwicklung des St. Galler Management-Modells
Vor mehr als fünfzig Jahren initiierte eine Gruppe von Professoren und Dozenten der Hochschule St. Gallen (HSG) unter der Leitung von Hans Ulrich eine grundlegende Weiterentwicklung der herkömmlichen Betriebswirtschaftslehre zu einer integrativen Managementlehre (Ulrich, 1984). Diesem wissenschaftlichen Vorhaben lag das Anliegen zugrunde, Führungsverantwortlichen und Studierenden im Kontext einer fortschreitenden disziplinären Auffächerung der Betriebswirtschaftslehre einen integrativen Bezugsrahmen zur Verfügung zu stellen. Dieser Bezugsrahmen sollte es ihnen erlauben, komplexe Probleme in ihrem Gesamtzusammenhang wahrzunehmen und aus einem möglichst ganzheitlichen Blickwinkel wirksam zu bearbeiten.