Hans-Peter Vogt

Der Wolfsmann


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      An diesem Vormittag wird die Halle unvermutet voll. Es war der letzte Schultag. Es gibt große Ferien, und viele Kids aus Berlin haben sich schon eingefunden. Skater und Musiker, BMX’ler und Musikinteressierte.

      Nach dem Frühstück zieht sich die Kindergruppe in eine der Nischen in der großen Halle zurück.

      Die Straßenkünstler beginnen mit ihrer Vorstellung. Die Kinder kennen sie schon, aber es ist immer wieder interessant, und die Gruppe bezieht die Kinder immer wieder in ihr Spiel ein, manchmal in Zauberkunststückchen, manchmal in Purzelbäume oder Überschläge, Stelzenlaufen oder Ballspiele.

      Auch viele der anderen Kids stehen jetzt um sie herum, lachen, klatschen und wechseln Worte.

      Für die Erzieher wird die Situation langsam unübersichtlich, weil sich Besucher, Akteure und Kinder immer mehr mischen, aber sie sind hier „auf heimischem Boden“, es ist undenkbar, dass hier etwas passieren würde.

       1.7.

      Alf fühlt einen kleinen Stich im Nacken, dann wird er urplötzlich schläfrig. Er spürt noch, wie er von starken Armen aufgefangen wird, und sieht über sich verschwommen das Gesicht eines Clowns.

      Die Menge bekommt gar nicht mit, wie sich dieser Clown herumdreht und mit Alf das Gebäude verlässt. Nach wenigen Schritten hat er einen Teil seines weiten Mantels um Alf geworfen, der unter diesem Tuch verschwindet. Alf wird in ein Auto getragen, das sich in Bewegung setzt und aus Berlin hinausfährt.

      Alfs Verschwinden wird erst zehn Minuten später entdeckt, als einem der Akteure auffällt, dass eines der Kinder fehlt. Er sieht sich um, dann geht er zu einem der Erzieher und stupst ihn an.

      „Ruf doch mal deine Kids zusammen. Ich habe den Eindruck, da fehlt jemand.“

      Drei Kinder und eine Erzieherin fehlen. Die Erzieherin und zwei der Kinder kommen aber bald zurück. Sie sind auf dem Klo gewesen. In diesem Alter dauert das manchmal ein wenig länger. Alf fehlt.

      Das ist ungewöhnlich. Alf entfernt sich zwar manchmal aus der Kindergruppe, aber er war ermahnt worden, sich abzumelden, wie alle Kinder, und er tut das auch.

      Die Suche wird ausgeweitet und eine der Bedienungen von Aysas Imbiss findet jetzt ein zusammengeknülltes Papier im Abfalleimer für Gemüseabfälle, das dort nicht hingehört. Sie will es schon in den Papiermüll stecken, da faltet sie das Papier, wie aus einer Art innerem Antrieb auseinander, und runzelt die Stirn.

      Dort steht in ausgeschnittenen bunten Lettern: „Alf ist weg. Das kostet euch 100 Millionen.“

      Sie bringt den Zettel sofort zu Senay und die schaltet schnell. „Keine weiteren Fingerabdrücke“, bestimmt sie, und greift zum Telefon.

       1.8.

      Fünf Minuten später steht Elvira neben ihr, und lässt sich die Situation erklären. Sie nickt. Sie alarmiert Rochen und die Sicherheitsabteilung.

      Rochen lässt sich das Papier mit einer Pinzette in ein Plastiksäckchen stecken, und alarmiert die Polizei.

      Dann werden die Kinder, die Erzieher, die Zuschauer und die Akteure befragt. Niemand hat etwas gesehen.

      Rochen geht hinüber in den Videoüberwachungsraum und lässt die Bänder zurücklaufen. Auf einem der Bänder ist zu sehen, wie ein ungewöhnlich unförmiger Clown das Gebäude in Richtung der Parkplätze verlässt. Da es keine Außenkameras gibt, gibt es dort keine weiteren Bilder.

      Als die Kripo eintrifft, werden weitere Befragungen und Ermittlungen vorgenommen, dann verabschiedet sich Elvira. Sie hat jetzt ein paar dringende Gespräche zu führen.

      Das ist nun etwas, wobei sie die Beobachtung der Polizei nicht gebrauchen kann. Elvira nimmt Kontakt zu den Leitern der großen Mafiaorganisationen in Berlin auf, zu den Chinesen, den Kroaten, den Italienern, den Russen und den Serben.

      „Ich nehme nicht an, dass ihr mit dieser Entführung etwas zu tun habt“, sagt sie, und ich bitte euch, dass ihr eure Augen und Ohren offen haltet. Ich will mein Kind heil und gesund wiederhaben. Der Entführer hat 100 Millionen verlangt. Wenn ihr dafür sorgt, dass Alf wieder nach Hause kommt, dann werden eure Informanten einen sehr schönen Urlaub verbringen können, das verspreche ich euch.“

      Diesmal schlüpft Elvira in die Köpfe der Mafiabosse. Sie sind nicht involviert. Sie wissen wirklich nichts.

      Noch bevor der Polizeiapparat richtig auf Touren kommt, arbeiten schon die Mafiaorganisationen, und auch Rochens Sicherheitsgruppe an der Lösung des Problems.

      Elvira versucht über ihre Energie den Kontakt zu ihrem Sohn herzustellen. Sie fühlt, dass er lebt und dass es ihm gut geht.

      Sie nimmt Kontakt zu ihrer Tante Chénoa und zu ihrer Cousine Solveig auf, die beide über diese gewaltigen Fähigkeiten verfügen, Energieströme zu versenden, aber auch die schütteln den Kopf.

      Sie spüren, dass es dem Kind gut geht, aber wo Alf ist, das finden sie nicht heraus.

      Nach zwei Tagen kommt der erste Brief des Entführers. Er wurde irgendwo im Westen von Berlin im Briefkasten eines Backshops eingeworfen. Auch jetzt hatte niemand etwas gesehen. „Keine Polizei“, steht da, und wenn Elvira bezahlen wolle, dann solle sie in der Berliner Morgenpost eine Anzeige aufgeben, mit dem Text. „Berliner Bären lieben heiße Schokolade“. Alles andere würde sie später erfahren.

       1.9.

      Die Leute der Mafia strecken ihre Fühler aus.

      Rochens Leute werden aktiv. Die Polizei hört sich um. Es gibt keine Spur. Es ist wie verhext. Der Staat hatte seine Überwachung längst perfektioniert. Heimlich und für die Bürger unsichtbar. Die Mafia hat sehr große Ohren und sie kennt sich in diesem Milieu aus. Rochens Leute sind geschickt und gut vernetzt. Sie kennen sich in Berlin und Umgebung wirklich gut aus, aber sie finden keinen einzigen Hinweis.

      Chénoa nimmt Kontakt zu den Bossen der südamerikanischen Drogenmafia auf. Wenn es da einen Zusammenhang gäbe, warnt sie, dann würde sie das persönlich nehmen. Die Mafiabosse versichern, dass sie damit nichts zu tun haben.

      Elvira versucht immer wieder, den Kontakt zu ihrem Kind herzustellen. Sie spürt, dass Alf lebt.

      Sie spürt, dass er sich gegen den Entführer wehrt, aber seine Energieströme sind viel zu schwach, dass sie hätte herausfinden können, wo er sich gerade aufhält.

      Nur Artemis weiß, wo Alf steckt, denn einer der Cantara sitzt in Alfs Kopf, aber Artemis tut nichts.

      In diesem Stadium scheint es nicht notwendig, Alf zu schützen, oder der Familie zu helfen.

       1.10.

      Als Alf aus seiner Betäubung wieder aufwacht, ist er in einem leeren und ziemlich verwahrlosten Raum. Es gibt eine Matratze und eine Decke. Vor ihm steht ein Tablett mit einem Teller Müsli und eine Flasche Wasser. Es gibt ein Oberlicht, das nur Dämmerlicht in den Raum durchlässt, und es gibt eine Tür mit einem Spion. Es gibt ein „Töpfchen“ aus Emaille, eine Rolle Klopapier, und es ist so still, dass es schon fast unheimlich ist.

      Alf ist alleine. Er ist nicht gefesselt, und seine Augen, Ohren und der Mund sind auch nicht verbunden.

      Er setzt sich auf, studiert seine Umgebung, versucht sich zu erinnern, und steht dann auf, um gegen die Stahltür zu hämmern.

      Es klingt dumpf, fast lautlos. Irgendwo gibt es eine Art Hall. Dann schreit Alf, aber da ist nichts.

      Kein Laut, keine Reaktion.

      Alf ist noch sehr klein, aber spürt natürlich, dass hier etwas nicht stimmt. Nein, nicht irgendetwas. Nichts stimmt hier. Er sieht sich noch einmal um, dann seufzt er.

      Er trinkt aus der Plastikflasche. Das Wasser ist frisch. Er muss die 1,5 Literflasche mit beiden Händen halten.